Es folgt meine ausführliche Stellungnahme zum Diskurs um den Konflikt zwischen Abdel-Hakim Ourghi und der Stiftung Sunnitischer Schulrat (Stand 8. Sep. 21). Die Kapitel sind über das folgende Inhaltsverzeichnis einzeln direkt anwählbar. Eine Zusammenfassung findet sich in Kapitel 2 in Form von 15 Thesen. Sowohl die Stellungnahme, als auch die Zusammenfassung sind hier auch als PDF-Dokumente abrufbar:

Inhaltsverzeichnis mit anwählbaren Kapiteln

1)     Einleitung: Warum ich die Notwendigkeit sehe diese Stellungnahme zu schreiben.

2)     Zusammenfassung meiner Stellungnahme in 15 Thesen
2.1) Die Überschriften der 15 zusammenfassenden Thesen
2.2) Die 15 zusammenfassenden Thesen

3) Warum der Ton der Debatte den IRU in BW generell gefährdet
3.1) Ohne die Stiftung wird es keinen IRU in BW geben
3.2) Warum es wichtig ist, dass der IRU in BW Bestand hat

4) Wieviel „konservative Gefahr“ geht von der Stiftung wirklich aus?
4.1) „Aber Verbände wie der LVIKZ sind doch konservativ, oder etwa nicht?“
4.2) Die Stiftung ist keine „islamisch-konservative“ externe Kraft, sondern eine staatsnahe und transparente Einrichtung
4.3) Die Stiftung ist bisher sowohl mit den IRU-Lehrkräften und Referendar*innen, als auch mit den Inhalten des IRU sehr liberal umgegangen
4.4) Der IRU in BW und die damit verbundenen Studiengänge stehen seit Jahren schon auf wissenschaftlichen und freiheitlichen Füßen
4.5) Macht und Ohnmacht der Stiftung an Hochschulen

5) Misst die Stiftung bei Herrn Ourghi aktuell nun mit zweierlei Maß, oder nicht?

6) Ist Herr Ourghi letztlich zu liberal für konservative Muslime?
6.1) Vorüberlegungen: Ist Kritik an Herrn Ourghi automatisch „konservativ“?
6.2) Kritik an der Nutzung der Begriffe „konservative Muslime“ und „liberale Muslime“ in der deutschen Islamdebatte
6.3) Kritik an Herr Ourghis Beiträgen zur deutschsprachigen Integrationsdebatte
6.3.1) Herr Ourghis Aussagen zu den sexuellen Übergriffe in der Kölner Silversternacht
6.3.2) Herr Ourghis Aussagen zum muslimisch geprägten Antisemitismus
6.3.3) Zusammenfassung
6.4) Eine kritische Rezension zu Herr Ourghis 40 Thesen zur Reform des Islams

7)     Zum Abschluss: Eine diskursanalytische Reflexion

Fußnoten

Quellen

1)   Einleitung: Warum ich die Notwendigkeit sehe diese Stellungnahme zu schreiben

Ich bin Ausbilder von Referendar*innen für den islamischen Religionsunterricht (IRU) an Gymnasien in Baden-Württemberg, und seit 2015 in verschiedenen Gremien und Einrichtungen des Landes an der Entwicklung des IRU in BW und an der Ausbildung von IRU-Lehrkräften für das Gymnasium beteiligt. In den letzten Monaten wurde ich Zeuge, wie eine für den IRU existenziell wichtige Einrichtung, nämlich die Stiftung Sunnitischer Schulrat (kurz: Stiftung), in den Fokus der Medien rückte. Diese Stiftung des öffentlichen Rechts erfüllt seit 2019 die Rolle des verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Trägers des bekenntnisorientierten Islamischen Religionsunterrichts sunnitischer Prägung in BW. Die Stiftungsbehörde ist das Kultusministerium und ihr Vertragspartner sind die beiden kleineren islamischen Verbände LVIKZ und IGBD. Die größeren Verbände DITIB und IGBW haben im Vorfeld der Stiftungsgründung ihren Wunsch an einer Beteiligung zurückgezogen.

Der Stiftung wird aktuell im Wesentlichen vorgeworfen von ultrakonservativen islamischen Fundamentalisten besetzt zu sein, die versuchen liberale und aufgeklärte Stimmen unter den Hochschullehrkräften im IRU – und dabei insbesondere den Freiburger Islamwissenschaftler und Islamkritiker Abdel-Hakim Ourghi[1] – durch ein Erteilen von Lehrverboten faktisch auszuschalten. Das Spektrum derjenigen, die diesen Konflikt so oder so ähnlich deuten, reicht mittlerweile vom neuen Islambeauftragten der württembergischen Landeskirche in BW Herr Friedmann Eißler (Herr Eißler: „So wird versucht, einen herausragenden Vertreter des liberalen Islam an den Rand zu drängen und mundtot zu machen[2]) bis zur Bild-Zeitung (Bild-Bericht: „… [Es] gilt Ourghi als eine der Koryphäen des liberalen Islam in Deutschland. So schrieb er ein Buch mit 40 Thesen für eine friedfertige und geschlechtergerechte Religionsausübung… Gerade diese liberale Haltung wird dem Wissenschaftler jetzt zum Verhängnis.“[3]).

Hintergrund ist, dass die Stiftung kürzlich den Antrag von Herrn Ourghi auf eine Lehrbefugnis, die für den IRU als Idschaza bezeichnet wird, abgelehnt hat. Diese Ablehnung ist, noch ehe irgendeine religiös-inhaltliche Differenz diskutiert wurde, formal begründet worden. Demnach erfüllt Herr Ourghi nicht das in der Idschaza-Ordnung festgehaltene Kriterium, dass Hochschullehrkräfte für den IRU ein islamisch-religionspädagogisches Studium, oder einen ähnlichen Studiengang absolviert haben müssen.[4] Ohne religiöse Lehrbefugnis wiederum ist es laut den bisherigen Umsetzungen des deutschen Staatskirchenrechts im Grunde nicht möglich als Hochschullehrkraft Religionslehrkräfte für den bekenntnisorientierten Religionsunterricht auszubilden.[5] Im speziellen Falle des IRU muss jedoch bei aktuell laufenden Arbeitsverträgen an Hochschulen, die in der Zeit vor der Stiftungsgründung geschlossen wurden, keine Lehrbefugnis beantragt werden, wie ich weiter unten darstellen werde. Das heißt, dass in Fällen wie dem von Herrn Ourghi nicht ein fortgesetzter Lehrbetrieb, sondern erst das Schließen eines neuen Arbeitsvertrages an einer Hochschule im Kontext der IRU-Ausbildung in Konflikt mit der Entscheidung der Stiftung geraten könnte.

Herr Ourghi hat nun nach seinem Antrag und der Ablehnung gegen die Entscheidung der Stiftung Einspruch bei der Schiedskommission der Stiftung eingelegt. Theoretisch kann Herr Ourghi bei einem erneuten Scheitern auch vor das Verwaltungsgericht gehen. Es wird derweil von verschiedenen Seiten – an erster Stelle von Herrn Ourghi selbst[6] –, als nicht ausgeschlossen angesehen, dass bei Erfüllung der formalen Kriterien nun auch inhaltliche Punkte in seinen religiösen Ansichten zu einer vergleichbaren Situation führen könnten. Genau an dieser nicht ganz unbegründeten Überlegung hat sich die Empörung darüber entzündet, dass hier nun ein Machtkampf zwischen „liberalem Islam“ und „konservativem Islam“ stattfände, und dass die Stiftung diesen Machtkampf mit staatlicher Rückendeckung gegen die „Liberalen“ entschieden habe.

Mittlerweile hat sich die Debatte noch vor einem Entscheid der Schiedskommission derart hochgeschaukelt, dass nun schon die Legitimität der Stiftung an sich als fraglich dargestellt wird. Manche Stimmen – allen voran Herr Ourghi selbst und die AfD – fordern die Auflösung[7] der Stiftung, die verfassungswidrig[8] sei. Laut Herrn Ourghi seien zudem die beiden Vertragspartner des Landes in der Stiftung nicht nur einfach „konservativ“, sondern auch eine „Gefahr für unsere Demokratie und unsere westlichen Werte“. [9] Diese schrille Verurteilung verwirrt nicht nur durch ihre Schärfe und Pauschalität, sondern auch dadurch, dass Herr Ourghi sich zeitlich genau bei jener Stiftung, die von diesen angeblichen Gefährdern unserer Demokratie begründet wurde, um eine religiöse Lehrbefugnis bewirbt bzw. Widerspruch bei der Schiedskommission dieser Stiftung gegen die Ablehnung einlegt. Andere Stimmen in der Debatte fordern – ohne Blick auf geltende Verfahrensregeln oder ähnliches – einen direkten Eingriff durch die Politik in das Handeln der mutmaßlich reaktionären Stiftung. Dabei war es genau dieselbe Politik, durch deren große Bemühungen die Stiftung mitsamt den Verfahrensregeln erst ins Leben gerufen wurde.

Als ich dann am 3.8.21 in den Stuttgarter Nachrichten auf der dritten Seite den erschütternden Beitragstitel „Islamunterricht vor dem Aus?“ sah, in dem die besagten Vorwürfe nun auch auf Mitglieder der Schiedskommission der Stiftung, bei denen Herr Ourghi Einspruch eingelegt hat, ausgeweitet wurden, war für mich klar, dass ich, der ich sonst zu so vielen anderen Dinge lange Texte und Analysen geschrieben habe, erstmals auch zu einer bildungspolitischen Streitfrage im Kontext des IRU etwas Ausführlicheres schreiben muss.

Mir ist es wichtig zu zeigen, dass die Schärfe der Debatte nicht sachlich begründet ist, und dass die vorgebrachten Forderungen gegen die Stiftung das Kind mit dem Bade auszuschütten drohen. Ich möchte dazu erklären, warum sowohl die Stiftung und ihr faktischer Handlungsspielraum, als auch Herr Ourghi und seine Positionierung zum Islam meiner Meinung nach zu einseitig eingeschätzt werden und um einiges differenzierter betrachtet werden müssen. Insbesondere möchte ich darlegen, dass der hier vorliegende Konflikt sich nicht auf einen Machtkampf zwischen „liberalen“ und „konservativen“ Muslimen reduzieren lässt, in dessen Zentrum die Differenz des Maßes ihrer „Liberalität“ oder ihrer „Konservativität“ stünde.

Dazu ist zu zeigen, dass die einzelnen Komponenten im aktuellen Konflikt wesentlich komplexer sind, als es ein großer Teil der Medienberichte nahelegt. Ich bürde mir damit eine undankbare Aufgabe auf: Ich möchte die zugegebenerweise sehr plausibel klingende (und somit höchst gemütliche) eindimensionale Deutung des Geschehens („konservativ“ vs. „liberal“) aufbrechen und erweitern um den Einbezug weiterer grundlegender Dimensionen. Und ich möchte die Debatte um eine Reihe von wenig bekannten Fakten zum Wirken der Stiftung ergänzen und zu einer dringend nötigen Differenzierung der an diesen Konflikt herangetragenen Liberalitäts- und Konservativitätsannahmen anregen. Darum vermeide ist es in diesem Text auch weitgehend die Begriffe „liberal“ und „konservativ“ ohne Gänsefüßchen zu verwenden, da ich mich ja gerade gegen deren naive und unkritische Verwendung aussprechen und dies begründen möchte.

Das ganze Thema des Beitrags hier (außer vielleicht das Kapitel 6) könnte mir herzlich gleichgültig sein und war es bis vor kurzem auch – wenn nicht so viele Stellen in einer frappierenden Voreiligkeit die Stiftung auf minimaler Faktenbasis und unter kaum übersehbarer Parteilichkeit politisch am besten heute noch zu Grabe tragen würden. Denn: Bei der Stiftung geht es um eine Einrichtung, deren Existenz im Moment die einzige verfassungsrechtliche Absicherung der Zukunft des IRU in BW darstellt, und mit der alle IRU-Lehrkräfte, die ich kenne, exzellent zusammenarbeiten. Da von der Stiftung bislang nur zu den formalen Streitfragen Klärungen kamen (hier und hier) (und von den beteiligten Verbänden gar keine), aber da die Debatte sich zugleich mit immensem Tempo in Richtung von politischer Eskalation in Bezug auf den IRU überhaupt bewegt, möchte ich als Kenner der Materie und Mitgestalter des IRU in BW nun meinen eigenen diskursiven Widerspruch einlegen, zu Gelassenheit im Ton und Differenzierung in der Sache anregen und insbesondere darum bitten, sich nicht mit den naheliegendsten und gemütlichsten Deutungsweisen zufrieden zu geben.   

Abschließend möchte ich auf zwei Dinge hinweisen:

Erstens: Ich stehe in keinerlei beruflichem Konkurrenzverhältnis oder Kontakt zu Herrn Ourghi. Dies hängt damit zusammen, dass die IRU-Ausbildung in BW seit vielen Jahren schon an vielen verschiedenen Hochschulen und Studienseminaren parallel stattfindet und von zwei oder noch mehr Dutzend Hochschul- und Seminarausbilder*innen verantwortet wird. Herr Ourghi und ich sind nur zwei von diesen vielen Personen. Er bildet an einer Pädagogischen Hochschule IRU-Studierende für den Primar- und Sek-I-Bereich aus. Ich wiederum bilde an einem staatlichen Seminar Referendar*innen für den IRU am Gymnasium aus.

Zweitens: Diese Stellungnahme hier ist das Produkt meiner eigenen Recherchen und Überlegungen. Ich möchte betonen, dass die wiedergegebenen Informationen leicht zugänglichen und in Fußnoten oder Klammern angegebenen Quellen entstammen und schnell überprüfbar sind (außer ich gebe ausdrücklich persönliche Erfahrungen wieder) – und dass alle Deutungen, Wertungen und Vorschläge nicht die Meinung irgendeiner Institution wiedergeben, sondern einzig meine Meinungen sind, für die ich geradestehe.

Da der Text lang und komplex ist, habe ich für eilige Leser*innen das folgende Kapitel als Zusammenfassung der eigentlichen inhaltlichen Kapitel in Form von 15 Thesen konzipiert. Für einen sehr schnellen Überblick kann man sich an den Überschriften der 15 Thesen in 2.1) orientieren. Die eigentliche Zusammenfassung findet sich unter 2.2). Die vollständige Ausführung und Diskussion ist in den Kapiteln 3 bis 6 im Detail nachzulesen, aber dort dann nicht mehr strikt nach den 15 Thesen getrennt. Dafür findet sich am Ende einer jeden zusammenfassenden These in 2.2) ein Kapitelhinweis.

Ferner möchte ich darauf hinweisen, dass die Kapitel dieser Stellungnahme auch unabhängig voneinander gelesen werden können. Sie bauen nicht streng aufeinander auf, auch wenn das Fazit des Textes sich erst aus der Gesamtschau ergibt.

2)   Zusammenfassung meiner Stellungnahme in 15 Thesen

2.1) Die Überschriften der 15 zusammenfassenden Thesen

These 1) Ohne die Stiftung wird es keinen islamischen Religionsunterricht (IRU) in BW geben

These 2) Die Stiftung ist eine staatsnahe, transparente und konstruktiv arbeitende Einrichtung

These 3) Das bisherige Handeln der Stiftung spricht eindeutig für eine freiheitliche Orientierung

These 4) Das Wirken von Verbänden in der Stiftung wird den Kurs des IRU nicht einengen

These 5) Die Vorteile der Stiftung überwiegen ihre Nachteile für den schulischen IRU deutlich

These 6) Die Causa Ourghi ist komplexer als ein Machtkampf zwischen „liberal“ und „konservativ“

These 7) Die öffentliche Debatte ist unkritisch in der Frage, wofür Herr Ourghi außer „Liberalität“ sonst noch steht

These 8) Herr Ourghis Beiträge zur Integrationsdebatte befördern regelmäßig die pauschale Verachtung und Verurteilung von Muslim*innen und des Islams

These 9) Herr Ourghis theologische Meinungen beinhalten einen drastischen Reform-Exklusivismus

These 10) Exkurs: Herr Ourghis medial überhöhter Reformansatz ist inkohärent

These 11) Herr Ourghi schadet mit seinem Ton dem Ansehen jeglicher Reformidee unter Muslim*innen

These 12) Komplexe Sachverhalte dürfen nicht auf Begriffe wie „liberal“ und „konservativ“ reduziert werden

These 13) Die „Liberalitätsfrage“ ist nicht der Kern des Konflikts zwischen der Stiftung und Herrn Ourghi

These 14) Hinsichtlich der Lehrbefugnis-Frage sind weiterhin beide Ausgänge möglich

These 15) Fazit: Die Liberalität der Stiftung wird unterschätzt, die Liberalität von Herrn Ourghi überschätzt

2.2) Die 15 zusammenfassenden Thesen

Ich plädiere in meiner Stellungnahme dafür im aktuellen Konflikt zwischen der Stiftung und Herrn Ourghi beide Seiten unvoreingenommener zu analysieren und zu beurteilen, als es das Gros der medialen Darstellung in den letzten Monaten getan hat. Meine These lautet: Weder verhält sich die Stiftung bislang wie eine ultrakonservative Einrichtung, noch entspricht Herr Ourghis Beitrag zur Integrationsdebatte und sein theologischer Ansatz einer vollumfänglich liberalen oder wissenschaftlich fundierten Lehre. Insofern ist die Reduktion des aktuellen Konflikts auf einen Machtkampf zwischen „konservativem Islam“ und „liberalem Islam“ in dieser Form nicht haltbar. Darum sollte man die Stiftung in Ruhe weiterarbeiten lassen und sich ohne hinreichende Kenntnis der Einzelheiten mit einer Verurteilung ihrer Entscheidungen zurückhalten. Auch Entscheidungen, die auf den ersten Blick unplausibel wirken, können sehr wohl sachlich begründet sein. Ferner gibt es regulierte und abrufbare Möglichkeiten des Einspruchs durch Betroffene. Diese Punkte will ich nun schrittweise ausführen.

These 1) Ohne die Stiftung wird es keinen islamischen Religionsunterricht (IRU) in BW geben

Der wesentliche Ausgangspunkt meiner Stellungnahme ist die Feststellung, dass es in BW ohne die Stiftung nach aktuellem Sachstand höchstwahrscheinlich gar keinen IRU mehr geben würde, da sie aktuell der einzige realistische Kandidat für die verfassungsrechtlich geforderte Trägerschaft des IRU in BW ist. Aber genau dies – die Auflösung der Stiftung – ist eine der Forderungen unter anderem von Herrn Ourghi. Dies würde einen tiefen Einschnitt für die weit über hundert studierten IRU-Lehrkräfte in BW, für die mehreren hundert Studierenden, für dutzende Hochschulmitarbeiter*innen und für die rund 6000 Schüler*innen, die aktuell den IRU in BW besuchen, darstellen. Allein schon diese Zahlenverhältnisse verdeutlichen, dass der Ruf und die Perspektive des IRU in BW nicht von der Situation eines einzigen Akteurs abhängig gemacht werden darf. (Kap. 3)

These 2) Die Stiftung ist eine staatsnahe, transparente und konstruktiv arbeitende Einrichtung

Hinsichtlich der Stiftung zeige ich in meinem Text, dass es sich bei ihr um eine transparente, staatsnahe und bei weitem nicht so mächtige Einrichtung handelt, wie zu Unrecht suggeriert wird. Die Stiftung kann keine Lehrverbote aussprechen. Laut Stiftungsvertrag mit dem Land müssen Hochschullehrkräfte mit schon laufenden Verträgen keinen Antrag auf Lehrbefugnis bei ihr stellen. Selbst im Falle einer Nichtbeachtung der vertraglich bindenden Lehrbefugnis-Entscheide der Stiftung durch entsprechende Hochschulen stünden ihr als eigene Mittel nur zeitlich vorgezogene Kennenlerngespräche mit den Studierenden der entsprechenden Hochschulen zur Verfügung. Und es ist nach meiner Einschätzung auch nicht mit einem über dieses Vorgehen hinausgehenden Machtkampf zu rechnen, den die Stiftung führen wollte oder könnte.

Die Tatsache, dass sich der aktuelle Streit um die Lehrbefugnis von Herrn Ourghi an formalen Kriterien entzündet hat, die schon vor der Causa Ourghi personenunabhängig festgelegt und publiziert wurden, ist ein weiterer wichtiger Bezugspunkt für eine sachliche Analyse. Dass für Herrn Ourghi und andere Hochschullehrkräfte in ähnlicher Situation eine Kulanz hinsichtlich der formalen Kriterien gewünscht wird, ist nachvollziehbar. Dies ersetzt aber nicht eine hierzu nötige sachliche Argumentation. Nicht sachdienlich ist hierbei in jedem Fall der Ton, mit dem Herr Ourghi und teils auch Stimmen in den Medien die Stiftung angreifen, während noch nicht einmal das auf die Formalia bezogene Einspruchsverfahren zu Ende bearbeitet worden ist (Stand 7. Sep. 21), und selbst bei einer endgültigen Ablehnung der Weg zum Verwaltungsgericht nach wie vor offenstehen würde. (Kap.4)

These 3) Das bisherige Handeln der Stiftung spricht eindeutig für eine freiheitliche Orientierung

Ich stelle in meiner Stellungnahme anhand meiner eigenen Erfahrung in der IRU-Lehrkräfteausbildung dar, dass das bisherige Verhalten der Stiftung gegenüber IRU-Referendar*innen und IRU-Lehrkräften in keinster Weise eine Abstempelung der Stiftung als „ultrakonservativ“ oder als „Fundamentalisten“ rechtfertigt. Die Stiftung hat – „trotz“ der darin vertretenen und als konservativ geltenden Verbände – allen aktuellen Antragsteller*innen aus den Reihen der IRU-Lehrkräfte, die ihre Zugehörigkeit zum sunnitisch geprägten Islam bestätigt haben, ihre Lehrbefugnis ausgestellt, ohne nach Kriterien wie „liberal“ und „konservativ“ auszusortieren. Auch hat die Stiftung bisher auf keine Weise in den inhaltlichen Kurs des IRU-Bildungsplans 2016 eingegriffen, der auf Reflexion und kritische Diskussion abhebt. Das Lehramtsstudium beispielsweise am Zentrum für Islamische Theologie (ZITh) an der Universität Tübingen wiederum steht seit Jahren schon für eine fachlich sehr breit aufgestellte, kritische und wissenschaftlich differenzierte Ausbildung, die von der Stiftung ebenfalls nicht in Frage gestellt wird. Insofern stellt weder die Stiftung aktuell eine Gefahr für den progressiven Kurs des bekenntnisgebundenen IRU in BW dar, noch ist eine Ausstellung von Herr Ourghis Lehrbefugnis ein valider Gradmesser dafür, wie viel „kritische Reflexion“ die Stiftung „zulässt“. (Kap. 4)

These 4) Das Wirken von Verbänden in der Stiftung wird den Kurs des IRU nicht einengen

Die in der Stiftung vertretenen Islamverbände stehen in der Tat tendenziell für eine traditionellere Ausrichtung im Islam. In BW gibt es keine sich als dezidiert liberal-islamisch verstehenden Strukturen, die die kirchenverfassungsrechtlichen Kriterien für eine Glaubensgemeinschaft erfüllen. Diese Situation könnte nun theoretisch durchaus zu Spannungen zwischen den verschiedenen Akteuren im IRU führen. Allerdings ist dies ein Prozess, der für die Weiterentwicklung der muslimischen Community früher oder später ohnehin durchlaufen werden muss. Die Dialektik des Feldes wird dies früher oder später einfordern. Zum anderen ist aber davon auszugehen, dass die Verbände die Stiftung nicht dafür nutzen werden um Methoden und Zugänge, die in Moscheen üblich sind, aber die nach Maßstäben der Schulpädagogik womöglich als zu engführend und nicht hinreichend kognitiv anregend gelten könnten, in die Schulen hineinzutragen. Denn dazu ist die Stiftung eine zu schul- und staatsnahe Einrichtung, deren Handlungsspielraum verschiedentlich beschränkt ist. Ferner ist der IRU in BW seit 2006 schon derart ausdifferenziert und auf allen Ebenen in die Schulkultur des Hier und Jetzt integriert, dass willkürliche Eingriffe „von oben“ scheitern müssen, wenn sie nicht systemgerecht sind. Und: Die Verbände wirken bislang eindeutig so, dass sie sich der Situation und der Verantwortung bewusst sind, die sie in der jetzigen Position haben. (Die Causa Ourghi ist ein Sonderfall, s. u.) Darum gehe ich davon aus, dass auch bei künftigen Kursvorgaben durch die Stiftung mit keinem grundsätzlichen Bruch zur bisherigen IRU-Tradition in BW zu rechnen ist. Zur Klärung von dennoch auftretenden möglichen Spannungen gibt es genügend Möglichkeiten der Kommunikation, der Klärung und des Austausches. Zum Herbeiführen von sinnvollen Konfliktschlichtungen wird kein externes Tribunal nötig sein. (Kap. 4)

These 5) Die Vorteile der Stiftung überwiegen ihre Nachteile für den schulischen IRU deutlich

In jedem Fall überwiegen aktuell die Vorteile der Stiftungsgründung 2019 ihre möglichen Nachteile deutlich. Zwei sehr wichtige Vorteile sind (1), dass nun eine wenigstens bis 2024 währende verfassungsrechtliche Absicherung des IRU in BW gegeben ist, zu der sich bislang keine realistische Alternative gefunden hat, und (2) dass mit der Einbindung von entscheidungsbefugten Islamverbänden erstmals eine neue mögliche Legitimationsgrundlage des IRU gerade in den Augen von jenen muslimischen Familien entstanden ist, die aus verschiedensten Gründen einem staatlichem IRU gegenüber weniger aufgeschlossen sind. (Kap. 4)

These 6) Die Causa Ourghi ist komplexer als ein Machtkampf zwischen „liberal“ und „konservativ“

Bei der Causa Ourghi handelt es sich gleich in mehrfacher Hinsicht um einen Sonderfall: Hier kommen spezifisch für seine Person ins Spiel (1) formale Kriterien der Idschaza-Ordnung der Stiftung hinsichtlich eines religionspädagogischen Studiums, die bei ihm (auf den ersten Blick zumindest) nicht erfüllt sind, (2) sein öffentliches theologisches Wirken mit dem Anspruch ein liberaler Islamreformer zu sein, (3) sein öffentliches Wirken als Islamkritiker, der häufig einen pauschal abwertenden und verurteilenden Ton gegenüber Muslim*innen und den Islam anschlägt. Hinzu kommt (4) die Tatsache, dass er die Stiftung und jede Kooperation mit Islamverbänden für den IRU apriori ablehnt, ja die Verbände in der Stiftung öffentlich als „Gefahr für unsere Demokratie“ abstempelt.

Die nachweisliche Komplexität dieses Falles macht es daher nötig den aktuellen Konflikt zwischen Herrn Ourghi und der Stiftung nicht vorschnell als einen Konflikt zwischen „liberalem Islam“ und „konservativem Islam“ abzuhandeln. Sein Ton (4) ist zunächst einmal ungewöhnlich, aber noch kein Kriterium zur Klärung der Frage, ob ihm eine Lehrbefugnis zusteht. In der Causa Ourghi kamen bislang nur formale Kriterien, also Punkt (1), zur Sprache. Es ist jedoch denkbar, dass, wenn die Schiedskommission der Stiftung dem Einspruch von Herrn Ourghi stattgeben sollte, nun inhaltliche Fragen aus den Punkten (2) und (3) zum Streitpunkt werden könnten. Das mindeste Kriterium der Stiftung ist hierbei ein Bekenntnis zum sunnitischen Islam und die Selbstangabe, dass Lehrende im IRU sich hinsichtlich ihrer Lebensführung an den fünf Säulen und an den sechs Glaubensgrundlagen des Islams orientieren. Es ist sowohl denkbar, dass ein liberaler Reformer diesen Kriterien im Wesentlichen genügt, als auch, dass er ihnen – beispielsweise aufgrund eigener Abgrenzung hiervon – nicht genügt. Hierzu wäre eine Prognose vorweg in keiner Weise sachdienlich.

Es sei nochmals daran erinnert, dass die Stiftung trotz ihrer vertraglich verbrieften Hoheitsrechte über den IRU bislang deutlich „liberaler“ agiert hat, als vielfach erwartet worden ist. Aus den genannten Gründen ist es nicht vertretbar die hoch spezifische Causa Ourghi ohne jede Klärung als Schlüsselargument gegen die Stiftung zu verwenden, die liberale Muslim*innen „mundtot“ machen wolle. Konkret: Wenn es bei einer Ablehnung bleibt, dann ist es denkbar, dass hierfür gute und legitime Gründe vorliegen, und die nicht auf Herr Ourghis liberale Sichtweisen zurückführbar sind. Wenn die Ablehnung zurückgezogen wird, dann ist es ebenso denkbar, dass hierfür gute Gründe vorliegen. (Kap. 4 und 5)

These 7) Die öffentliche Debatte ist unkritisch in der Frage, wofür Herr Ourghi außer „Liberalität“ sonst noch steht

Dennoch ist es unabhängig von einem letzten Entscheid der Stiftung wichtig sich eine klare Meinung darüber zu bilden, wofür Herr Ourghi jenseits seiner Betitelung in den Medien und seiner Selbstbezeichnung als liberaler und aufgeklärter Reformer inhaltlich sonst noch steht. Auch dies ermöglicht noch keine Prognose hinsichtlich einer Beurteilung durch die Stiftung. Aber es ist zwingend nötig um zu beurteilen, ob Herr Ourghi wirklich nur eine liberale und aufgeklärte islamisch-theologische Position repräsentiert, wie es die Medienberichte suggerieren, oder ob er nicht doch beispielsweise regelmäßig einer pauschalisierenden Islamkritik mit einer Tendenz zur kollektiven Verurteilung von Muslim*innen und des Islams das Wort redet, wie unter anderem auch von mir vermutet wird. Solches ist aus meiner persönlichen Sicht nicht mit einer liberalen Islamauffassung vereinbar. Dass die Stiftung wiederum sich alleine am Faktor „liberal“ stören könnte, erscheint mir angesichts der ansonsten sehr vielfältigen Zusammensetzung der IRU-Community und der bisherigen Praxis als unwahrscheinlich. (Kap. 6.1-6.4)

These 8) Herr Ourghis Beiträge zur Integrationsdebatte befördern regelmäßig die pauschale Verachtung und Verurteilung von Muslim*innen und des Islams

Wie liberal und aufgeklärt sind Herr Ourghis Verlautbarungen also wirklich? Ein kritischer Blick in Herr Ourghis öffentliche Äußerungen zur Integrationsdebatte lässt aus meiner Sicht sehr häufig jede sozialwissenschaftlich notwendige Differenzierung bei der Analyse von problematischen Erscheinungen im muslimischen Kontext vermissen. So zeige ich in meiner Stellungnahme, wie er bei der Analyse der Kölner Silvesternacht (Kap. 6.3.1), oder von Antisemitismus im muslimischen Kontext (Kap. 6.3.2) nicht anhand wissenschaftlich differenzierter Kategorien, sondern anhand der Schwarz-weiß-Schemata der populären Islamkritik argumentiert, über den Weg der Medien breite Bevölkerungsschichten erreicht und damit in letzter Konsequenz erhebliche Negativklischees zu Muslim*innen zementiert. Es ist daher kein Wunder, dass er in den islamfeindlichen Diskursen u. a. des Rechtspopulismus oft als Kronzeuge zitiert wird. Dies scheint mir kein Wesensmerkmal von Liberalität zu sein. Er hat sich gegen diese Inanspruchnahme, soweit ich das sehen kann, noch nicht gewehrt. Andererseits wird er im innerislamischen Diskurs praktisch nie als Referenzpunkt verwendet – auch nicht in den akademischen reformorientierten Diskursen. Auch viele Kreise und Autor*innen, die sich ausdrücklich liberal-islamisch definieren, halten eine kritische Distanz zu Herrn Ourghi, nicht zuletzt aufgrund der rhetorischen Nähe zu muslimfeindlichen Diskursen. Herr Ourghi sollte dringend sein Verhältnis zu diesem Punkt – also zur Frage nach der Reproduktion und Verstärkung islamfeindlicher Diskursfragmente – klären, ohne seinen Kritiker*innen jedes Mal vorzuwerfen, dass sie doch nur kritischen Diskussionen ausweichen wollten. (Kap. 6.3)

These 9) Herr Ourghis theologische Meinungen beinhalten einen drastischen Reform-Exklusivismus

In seinen theologischen Auffassungen wiederum, die ich anhand seiner „40 Thesen“ (München, 2017) diskutiere, finden sich neben einigen Bezügen zur islamischen Tradition zahlreiche Liberalisierungsansätze, von denen ich einige für diskussionswürdig halte. Jedoch befinden sich unter seinen Thesen mindestens so viele experimentelle Neukonzeptionen von islamischer Theologie, die nach meinem Eindruck den Rahmen einer vertretbaren Islamreform bei weitem sprengen und letztlich das gesamte Reformkonzept als sektiererischen Reform-Exklusivismus mit Herrn Ourghi als Hauptvertreter erscheinen lassen. Von Vermittlungs- und Diskurswillen kann ich hier nicht viel erkennen.

Im entsprechenden Unterkapitel meiner Stellungnahme habe ich dazu exemplarisch darauf hingewiesen, dass laut Herrn Ourghi die zusammengesetzten Glaubensbekenntnisse, wie sie die sunnitischen und schiitischen Bekenntnisse sind, Polytheismus seien. Damit wird schon die erste Säule des u. a. sunnitisch geprägten Islams implizit als Irrlehre gebrandmarkt. Ferner beanspruche der Islam als Religion laut Herrn Ourghi ausschließlich die Araber der Offenbarungszeit anzusprechen, womit implizit die meisten heutigen Muslim*innen außerhalb des Adressatenkreises des Islams stehen würden. Dies sind Versuche eines theologischen Revisionismus, die ihresgleichen suchen. (Kap. 6.4)

These 10) Exkurs: Herr Ourghis medial überhöhter Reformansatz ist inkohärent

Herr Ourghis Erläuterungen zur Koranhermeneutik wiederum bleiben vage und springen unvermittelt zwischen (1) dem Ansatz einer historischen Hermeneutik, (2) einer islamkritischen Totalzurückweisung bestimmter Koranpassagen ohne exegetische Kontextualisierung und (3) einem die Sunna des Propheten grundsätzlich ablehnenden Koran-Modernismus hin und her. Dies macht es schwierig eine verbindliche und kohärente Hermeneutik zu erkennen. (Auf das Problem seines unsauber definierten Konzepts des ethisch-humanistischen und des politisch-juristischen Korans kann hier auf kurzem Raum nicht eingegangen werden.) Sein Anspruch historisch-kritisch zu arbeiten wiederum ist nur selten erfüllt, insbesondere, wenn er jede wissenschaftliche Quellenkritik beim Umgang mit außerkoranischen Überlieferungen, die es beispielsweise zum Umgang des Propheten mit den Juden von Medina schon seit den 90ern gibt, umgeht und stattdessen seine Kritik an den Überlieferungen direkt gegen den Propheten richtet. Gleichzeitig behauptet er an anderer Stelle, dass die gesamte prophetische Tradition zweihundert Jahre nach dem Propheten erfunden worden sei. Diese beiden Zugänge wirken im System betrachtet stark inkohärent. Sie im Zusammenhang darzustellen ist die Aufgabe des Autors, der ein Konzept vermitteln möchte. Es wäre wünschenswert, dass Herr Ourghi seine „40 Thesen“ nochmals im logischen Zusammenhang und mit strikten Begriffsdefinitionen und wissenschaftlichen Herleitungen neu formuliert, damit eine gründliche Auseinandersetzung damit möglich wird. Letztlich muss sich seine – und natürlich nicht nur seine – Fachkompetenz gerade in solchen Dingen zeigen. Exkurs Ende. (Kap. 6.4)

These 11) Herr Ourghi schadet mit seinem Ton dem Ansehen jeglicher Reformidee unter Muslim*innen

Ich bin der Meinung, dass Herr Ourghi mit seinen teils unausgegoren wirkenden, aber mit großem Selbstbewusstsein und hohem Geltungsanspruch vorgetragenen Thesen bei Muslim*innen zu einem erheblichen Imageschaden für jegliche Reformidee im Islam führt. Dieses Problem – muslimische Intellektuelle, die die Herzen islamkritischer Nichtmuslim*innen gewinnen, aber nicht das der Muslim*innen – ist nicht neu und eines der größten Hindernisse für einen breiten Reform- und Erneuerungsdiskurs im Islam. Das ist bedauerlich, da der innerislamische Diskurs nach wie vor stark auf tragfähige Erneuerungs- und Entwicklungsimpulse aller Art angewiesen ist. Diese Impulse sollten mehrheitlich von Innen kommen, und auch das Innen adressieren. Damit sie anschlussfähig sind, sollten sie eine überzeugende Anbindung an die reiche Tradition des Islams besitzen. Wenn sie die breiten Massen der Muslim*innen erreichen wollen, dann dürfen sie nicht damit ansetzen diese breiten Massen und die Moscheen, die sie besuchen, pauschal zu verurteilen, auch wenn dies zu großem Zuspruch in islamskeptischen Kreisen führt. Kontraproduktiv ist hierbei jegliche exklusivistische Arroganz, jede wissenschaftliche und begriffliche Ungenauigkeit sowie eine Überstrapazierung von polarisierenden Begriffen wie „liberal“ und „konservativ“ – vor allem, wenn diese sich aufgrund vieler autoritärer und bevormundender Elemente im eigenen Konzept nicht als echtes Freiheitsversprechen, sondern als Reizsignal für Kritiker von „konservativen“ Muslim*innen erweisen. (Kap. 6.3.2-6.3.3)

These 12) Komplexe Sachverhalte dürfen nicht auf Begriffe wie „liberal“ und „konservativ“ reduziert werden

Ich persönlich bin der Meinung, dass es heute meistens liberaler wäre, den Begriff „liberal“ aus der Islamdebatte weitgehend herauszuhalten und auf ganz konkrete Inhalte zu schauen. Ein eigenes Unterkapitel meiner Stellungnahme ist einer grundsätzlichen Kritik der diskursiven Verwendung der beiden Begriffe „konservativ“ und „liberal“ gewidmet. Ferner gilt: Ideen wie Gewaltverzicht, die Verurteilung von Antisemitismus und das Ideal einer Umsetzung der Idee von universellen Menschenrechten sind nicht diejenigen Konzepte, die Herrn Ourghi vor anderen Autor*innen auszeichnen, da diese Konzepte heute zu großen Teilen selbst von vielen „Konservativen“ geteilt werden, wenn auch Autor*innen wie Herr Ourghi in manchen Punkten noch dezidierter liberalisieren möchten als die eher konservativ orientierten Reformer*innen. Zugleich besteht meiner Meinung nach der eigentliche artbildende Unterschied bei Herrn Ourghi aber nicht in diesen ohnehin weit verbreiteten Punkten, sondern in seinen markanten Eigenschöpfungen und Zuspitzungen in den 40 Thesen, für die ich oben Beispiele genannt habe.

Die von mir zu seinem diskursiven und theologischen Wirken exemplarisch angeführten Kritikpunkte sind meines Erachtens wichtig um einschätzen zu können, ob Herr Ourghi wirklich der liberale und aufgeklärte Islamtheologe ist, als der er in vielen medialen Darstellungen dargestellt wird. Dies wiederum ist wichtig um zu beurteilen, ob der aktuelle Konflikt zwischen ihm und der Stiftung wirklich auf einen Konflikt zwischen „liberalen“ und „konservativen“ Muslimen reduzierbar sein kann. (Kap. 6.1-6.2)

These 13) Die „Liberalitätsfrage“ ist nicht der Kern des Konflikts zwischen der Stiftung und Herrn Ourghi

Ich bin der Meinung, dass es – jenseits eines möglichen Liberalitätsunterschieds in Einzelfragen, – so viele andere naheliegendere Konfliktpunkte zwischen der Stiftung und Herr Ourghi geben könnte, dass die Causa Ourghi kein belastbares Beispiel für einen Machtkampf zwischen „konservativ“ und „liberal“ darstellt, wie sehr dies auch allgemein geglaubt wird. Naheliegendere Konfliktpunkte liegen auf der Hand. So wird im Moment beispielsweise um Formalia gestritten. Denkbar wären auch Konflikte, die Herr Ourghis radikalen theologischen Revisionismus betreffen, den ich exemplarisch dargestellt habe, oder seinen pauschalen und herabwürdigenden Ton bei der öffentlichen Beschuldigung von Muslim*innen, von islamischer Identität und islamischer Religion überhaupt. Solche Konfliktpunkte wiederum sind meines Erachtens keine guten Beispiele für einen Konflikt zwischen „konservativ“ und „liberal“.Was von meinen Einschätzungen hierzu stimmt, wird sich zeigen, falls es je zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung der Stiftung mit Herrn Ourghis Positionen kommen wird. (Kap. 5 und 6)

These 14) Hinsichtlich der Lehrbefugnis-Frage sind weiterhin beide Ausgänge möglich

Es ist aus meiner Sicht weiterhin möglich, dass die Stiftung trotz der aktuellen Formalia-Frage und trotz der auf so vielen Ebenen vollzogenen demonstrativen Selbstabgrenzung von Herrn Ourghi – und ich meine damit nicht seine Liberalität in Einzelfragen – einen Weg findet Herrn Ourghi eine Lehrbefugnis auszustellen. Ich hätte trotz meiner umfangreichen Kritik selbstverständlich Verständnis für beide Ausgänge, da es mir mit meiner Kritik nicht darum geht zu beurteilen, ob eine Lehrbefugnis für Herrn Ourghi angemessen wäre. Meine Kritik zielt auf die deutliche Parteilichkeit des öffentlichen Diskurses dazu ab. (Ferner sollte meine Meinung zu Herrn Ourghi für die Entscheidungsfindung genauso irrelevant sein, wie es die der anderen Außenstehenden auch). Und ich wünsche mir, dass auch die anderen Diskursteilnehmer*innen Verständnis für beide möglichen Ausgänge aufbringen. Im Gesamtkontext des IRU in BW stellt Herr Ourghi nur eine von sehr vielen Komponenten und Akteur*innen dar. Seine An- oder Abwesenheit wird den Gesamtcharakter des IRU in BW kaum ändern. Darum geht es hier weder um die „Seele des IRU“ und schon gar nicht um die „Seele des Islams“. Herr Ourghis publizistischer Wirkungsradius wiederum hängt seit einigen Jahren schon mit Sicherheit auch nicht mehr von seiner genauen Rolle an der Hochschule ab. Und: IRU-Studierende, wie ich sie kennengelernt habe, sind ohnehin zu intelligent um blind allen Auffassungen von Hochschuldozierenden, oder allen Auffassungen eines religiösen Trägers von Religionsunterricht zu folgen. Insofern: immer mit der Ruhe! Ein Studium ist keine Dozenten-Talkshow, und studierte Lehrkräfte keine Vollzugsbeamten von religiösen Trägerschaftsstrukturen. (Kap. 5 u.a.)

These 15) Fazit: Die Liberalität der Stiftung wird unterschätzt, die Liberalität von Herrn Ourghi überschätzt

Meine Stellungnahme zielt darauf ab zu zeigen, dass große Teile der medialen Darstellung, wenn es um die Stiftung und Herrn Ourghi ging, parteiisch und schlecht fundiert sind. Und dass die Lesart des Konflikts als Konflikt zwischen liberalem und konservativem Islam mehr auf Wunschdenken als auf Fakten basiert. Womöglich urteile ich über Herrn Ourghi dabei zu sehr aus der Distanz, also als jemand, der seine Auffassungen primär anhand seiner Texte und Auftritte rezipiert und kritisiert. Darum wäre es sicher sinnvoll auch seine Studierenden und Absolvent*innen zu befragen, um ein repräsentativeres Bild von ihm zu bekommen, da sie sein Wirken ja aus nächster Nähe kennen. Ferner wäre es zur ausgewogeneren Beurteilung seiner theologischen Kompetenz durch uns Außenstehende sinnvoll auch einige islamische Theolog*innen und (auch nicht muslimische) Islamwissenschafler*innen zu Wort kommen zu lassen. Eben für so etwas könnten die Medien, die ich hier oft kritisiert habe, einen wichtigen Beitrag leisten. Es ist immer denkbar, dass ich mich in meiner Lektüre und in meinen Analysen irre. Und ich bin selbstverständlich bereit dazu mich über Fehler und Irrtümer in meinen Darstellungen aufklären zu lassen und diese zu korrigieren.

Frage: Sind die anderen Diskursteilnehmer*innen auch bereit dazu?

3) Warum der Ton der Debatte den IRU in BW generell gefährdet

3.1) Ohne die Stiftung wird es keinen IRU in BW geben

Herr Ourghi hat, wie eingangs erwähnt, bei der Schiedskommission der Stiftung Widerspruch eingelegt um doch noch die Lehrbefugnis zu erhalten. Dies ist ein plausibler Vorgang, den ich nur unterstützen kann. Problematisch und verstörend für mich ist jedoch, dass er anlässlich der ihm verweigerten Lehrbefugnis, die sonst nahezu allen anderen Antragsteller*innen – einschließlich meiner Person – von Seiten der Stiftung problemlos ausgestellt wurde, folgende in der Einleitung genannten Behauptungen aufstellt:
 
(1) Die Stiftung ist eine verfassungswidrige Einrichtung und muss aufgelöst werden.
(2) Die beiden im Vorstand der Stiftung vertretenen Verbände, die die fachliche und theologische Aufsicht mitverantworten, und mit denen das Land einen Vertrag geschlossen hat, sind eine Gefahr für unsere Demokratie.

In dieselbe Richtung gehende Subtexte unterschiedlicher Schärfe findet man auch bei manchen Autor*innen der mittlerweile zahlreichen Medienberichte über den Konflikt. Das für mich entscheidende Problem dabei lautet:

Die von Herrn Ourghi erhobenen Forderungen nach Auflösung der Stiftung laufen – einmal ernst genommen – auf eine völlige Beendigung des IRU in BW hinaus, da die Stiftung aktuell die einzige realistische Option für einen religiösen Träger des IRU in BW ist.

In diesem Sinne stellt beispielsweise Michael Weißenborn am 2. August 2021 in den Stuttgarter Nachrichten[10] die Frage: „Islamunterricht vor dem Aus?“ Als Hintergrund der Frage gibt er den aktuellen Konflikt zwischen dem „liberalen Freiburger Islamwissenschaftler Ourghi“ und „zweifelhaften Akteuren der Stiftung Sunnitischer Schulrat“ an. Die mit eindeutigen Wertungen belegte Wortwahl („liberal“ hier und „zweifelhafte Akteure“ da) lässt vermuten, dass der mediale Bericht eher nicht frei von Parteinahme ist, wie es wohl auch in anderen Medienberichten der Fall ist, wie ein Blick auf die Beitragstitel vermuten lässt.

Noch häufiger ist der Versuch den Konflikt auf einen Streit zwischen einem „liberalen und aufgeklärten Reform-Islam“ von Herrn Ourghi und einem „(ultra-)konservativen Islam“ der Verbände bzw. nun der Stiftung zurückzuführen, die in der FAZ gar pauschal als „Fundamentalisten“ abgestempelt wurde.[11] Demnach steht Herr Ourghi offensichtlich auf der „guten“ und die Stiftung auf der „schlechten“ Seite. Eine solche „Einsicht“ hat freilich Folgen. So zitiert Herr Weißenborn Herrn Ourghi mit ähnlichen Worten wie oben: „Ein erfolgreicher Islamunterricht, der eine integrative Rolle spielen könnte, ist nur ohne Dachverbände möglich“. Zugespitzt lautet diese These also

(3) Herr Ourghi vertritt einen liberalen Islam, während die Stiftung wegen der beteiligten Verbände einen konservativen/fundamentalistischen Islam vertritt.

Selbstredend gilt auch: Der liberale Islam (und somit Herr Ourghi) ist gut und wünschenswert, der konservative Islam (und somit die Stiftung) muss eingedämmt werden. Dies führt auch unmittelbar zur eigentlichen Pointe in der kritischen Berichterstattung über den aktuellen Konflikt. Sie zieht sich ebenfalls durch etliche Medienberichte und lautet:

(4) Die Stiftung vertritt einen konservativen Islam und gewährt Herrn Ourghi keine Lehrbefugnis, weil dieser eine liberale Position vertritt, die den konservativen Verbänden ein Dorn im Auge ist.

Die vier auf diese Weise vorgebrachten Forderungen und Behauptungen im Kontext der Stiftung[12] sind nicht auf Korrekturen oder auf eine objektive Aufarbeitung eindeutiger Problemlagen ausgerichtet, sondern richten sich letztlich – unkritisch rezipiert und verstärkt – gegen die Zukunft des gesamten IRU in BW, der im Moment mit seinen über hundert Lehrkräften aktuell an die 6000 Schülerinnen und Schüler von der Grundschule bis zum Gymnasium erreicht.[13]

Denn: Die hier von Grund auf angegriffene Stiftung wird nach meinen Beobachtungen in den letzten sechs Jahren von der Landesregierung und vom Kultusministerium, das offiziell die Stiftungsbehörde der Stiftung ist, als die einzige aktuell realisierbare Trägerstruktur für den IRU sunnitischer Prägung angesehen, die gerade noch den verfassungsrechtlichen Kriterien von Religionsunterricht genügt und zugleich gerade noch als politisch tragfähig empfunden wird. Daraus ergibt sich meine These und zugleich der Auslöser meines Protestes gegen den Ton in der aktuellen Debatte:

OHNE DIE STIFTUNG ODER EINE IHR ANALOGE STRUKTUR UNTER EINER BETEILIGUNG VON ISLAMVERBÄNDEN – GLECHGÜLTIG WIE KLEIN ODER GROß UND IN WELCHER FORM AUCH IMMER –  WIRD ES KEINEN IRU IN BW GEBEN!

Zeuge dafür ist das fast 15 Jahre währende erfolglose Ringen des Landes das Modellprojekt in einen regulären und verfassungsrechtlich haltbaren Unterricht zu überführen. Dies ging so weit, dass im Schuljahr 2018/19, noch bevor der Stiftungsvertrag zwischen dem Land und den zwei kleineren Islamverbänden LVIKZ und IGBD abgemacht war, aufgrund des erneuten Ablaufens der wiederholten Verlängerung des Modellprojekts in manchen Kreisen ernsthaft über das mögliche Ende des IRU in BW spekuliert wurde. Es war und ist in BW allein die Gründung der Stiftung, die den IRU seit 2019 in BW weiter tragbar gemacht hat.

Und genau deswegen muss die Stiftung weiter Bestand haben, solange sich keine andere Struktur zeigt.

Seit der Stiftung können alle Beteiligten, die für den IRU tätig sind (einschließlich von Herrn Ourghi und mir), und die über hundert IRU-Lehrkräfte wieder entspannt ihrer eigentlichen Bildungs- und Aufbauarbeit nachgehen, ohne ständige Angst davor, dass das ganze Fach im nächsten Schuljahr aufgrund eines fehlenden offiziellen Trägers eingestellt werden könnte.

Erwartungen, dass die Stiftung durch etwas völlig anderes, das komplett „frei“ von sich als Glaubensgemeinschaften verstehenden islamischen Organisationen ist, ersetzt werden könnte, sind im Moment nach meiner Einschätzung Formen von Wunschdenken, die in BW keine Aussicht auf eine Realisierung haben. Diese Einschätzungen sind schlichtweg mein subjektiver Eindruck aus längerer Beobachtung, zu der ich unter anderem während meiner Tätigkeit im IRU-Projektbeirat der Landesregierung, der 2015 gegründet wurde, Gelegenheit hatte. Eine zeitnahe Anerkennung eines oder mehrerer islamischer Verbände im BW als Glaubensgemeinschaft im Sinne der Staatskirchenrechts, die den IRU analog zu den christlichen Kirchen, komplett in Eigenverantwortung übernehmen könnten, scheint mir auf der Basis der Entwicklungen in den letzten Jahren bis auf Weiteres zu unrealistisch um dies als zeitnah realisierbare Alternative zur Stiftung zu behandeln. Natürlich ist nicht absehbar, wie das Bundesverfassungsgericht urteilen würde, wenn ein Verband wegen der Zwischenschaltung der Stiftung in den IRU (oder früher: wegen des verfassungsrechtlich nicht unkritischen Modellprojekts) eine Verfassungsklage einreichen würde. Immerhin ist der islamische Religionsunterricht sunnitischer Prägung der einzige, dessen Träger nicht unmittelbar eine entsprechende Glaubensgemeinschaft ist. Aber zu einer solchen Klage ist es bislang nicht gekommen. Und im Moment deutet nach meinem Eindruck nichts darauf hin, dass in naher Zukunft eine solcher Verfassungsklage zu erwarten wäre.

Man darf dabei auch nicht übersehen, dass die Stiftung in jetziger Form sicher weder aus der Sicht des Landes eine Ideallösung darstellt, noch für die Verbände. So haben ausgerechnet die großen Verbände DITIB und IGBW im letzten Moment eine Beteiligung abgelehnt, weil ihnen die Mitbestimmungsmöglichkeiten zu gering schienen. Aktuell sind nur der LVIKZ und die bosnische IGBD, beides eher „kleine“ Verbände, in der Stiftung vertreten (was nicht heißt, dass DITIB oder die IGBW den aktuellen IRU an sich ablehnen oder gar bekämpfen würden).[14]

Insbesondere ist die Stiftung weiterhin formal als Übergangslösung deklariert,[15] da die eigentliche verfassungsrechtliche Erwartung nach wie vor die ist, dass Glaubensgemeinschaften, die über die nötigen Voraussetzungen verfügen, den jeweiligen Religionsunterricht vollständig in Eigenverantwortung organisieren, unbeschadet des weiterhin gültigen Aufsichtsrechts des Staates, also so, wie es bei den sechs anderen Religionsfächern, deren Inhalte im Bildungsplan 2016 nachlesbar sind,[16] festgelegt ist. Die Existenz der Stiftung selbst ist zunächst bis Mitte 2024 gesichert. Wenn bis dahin eine vollständige Übertragung auf islamische Glaubensgemeinschaften möglich ist, dann wird dies sicher die rechtlich zu priorisierende Option sein – auch wenn diese Option politisch höchstwahrscheinlich deutlich mehr Widerstand erzeugen würde als die Gründung der strukturell staatsnahen Stiftung erzeugt hat. Wenn es zu keiner direkten vollständigen Übertragung des IRU auf islamische Glaubensgemeinschaften kommt, dann scheint mir, dass eine Fortführung der rechtlich relativ abgesicherten Stiftungsstruktur auf Basis eines neuen Vertrages sehr wahrscheinlich ist. Denn: Selbst das vorige Modellprojekt wurde von 2006 bis 2019 mehrfach verlängert – obwohl es verfassungsrechtlich aufgrund des Ausschlusses der Glaubensgemeinschaften aus Entscheidungsprozessen auf viel schwächeren Füßen als die jetzige Stiftung stand.

Für mich als auf dem Feld tätiger Ausbilder von IRU-Lehrkräften, der für eine gesunde Mischung aus Pragmatismus und Idealismus einsteht, steht fest: Alles, was aktuell zum Überleben des erfolgreich laufenden IRU formal nötig ist, und was keine einschneidenden Eingriffe in die gut laufende Praxis des IRU in BW nach sich zieht, ist aus meiner Sicht besser als eine Beendigung des IRU. Hier dürfen persönliche Interessen von Einzelpersonen, sofern kein Rechtsanspruch verletzt wird, nicht zum Entscheidungskriterium über die Legitimität der ganzen Sache gemacht werden. Denn für eine Klärung aller individueller Interessen und Beanstandungen sieht auch die jetzige Struktur mit der Stiftung regulierte Verfahrensweisen vor, die bis vor das Verwaltungsgericht reichen. Darum ist es naiv oder grob fahrlässig die Schwächen des Stiftungsmodells zum Anlass zu nehmen um das ganze mühsam erarbeitete Modell anzuschwärzen.

Wozu also die Aufregung und die Eile?

3.2) Warum es wichtig ist, dass der IRU in BW Bestand hat

Warum haben sich die Beteiligten diese seltsame Mühe gemacht, wenn die Stiftung doch gar keine natürlich gewachsene sunnitische Trägerstruktur darstellt wie etwa die christlichen Kirchen für die christlichen Religionsfächer? Hierfür hat jeder andere Gründe. So hat das Land in jedem Fall seit langem schon ein ernsthaftes Interesse an der Etablierung und Ausweitung eines islamischen Religionsunterrichts, der wie alle Fächer unter staatlicher Aufsicht steht, mit in Deutschland geborenen, sozialisierten und ausgebildeten Lehrkräften, die das Fach an allen Schularten auf Augenhöhe und in Harmonie mit den benachbarten Fächern vertreten können. Womöglich, so kann man mit auch nur wenig Fantasie, vermuten, spielt hier auch die Vorstellung einer integrationsförderlichen Wirkung des IRU eine Rolle, was zwar kein rechtlich relevantes, aber durchaus ein politisch relevantes Kriterium sein kann. Dieser Punkt ist zudem relativ unabhängig vom konkreten offiziellen Träger des IRU und gilt auch schon vor einer näheren Definition der Unterrichtsinhalte durch einen Bildungsplan. Denn: Ein an der öffentlichen Schule und unter staatlicher Aufsicht stattfindender IRU erfährt dieselben freiheitlichen Sozialisationswirkungen von Schule wie alle anderen Schulfächer auch. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass die Lehrkräfte des IRU an denselben deutschen Hochschulen und Seminaren ausgebildet werden wie alle anderen Lehrkräfte – und dadurch, dass die IRU-Lehrkräfte neben dem IRU immer auch zusätzliche säkulare Unterrichtsfächer studiert haben und unterrichten.

Ich bin sicher: Die meisten Personen, die einen repräsentativen Einblick in die schulischen und unterrichtlichen Prozesse im Umfeld des IRU haben, werden dies problemlos bestätigen können. Insofern ist der potenzielle Beitrag eines voll entwickelten IRU zu Integrationsprozessen nicht zu unterschätzen, und zwar relativ unabhängig vom konkreten Träger und von den konkreten Ausbilder*innen an Hochschule und Seminar. 

Für mich persönlich (und daher speziell am Gymnasium) ist der IRU bis in die Kursstufe hinein eine historisch einzigartige Chance Themen rund um den Islam und um islamische Identität in den gymnasialen Bildungskanon hinein zu übersetzen und damit zugleich den innerislamischen Diskurs unter Beteiligung angehender muslimischer Abiturient*innen und ihrer islamisch-theologisch ausgebildeten Lehrkräfte auf ein intellektuell deutlich höheres und authentischeres Niveau zu heben, als es bisher oft möglich war. Dahinter steht der nicht nur von mir tief empfundene Wunsch den Islam und islamische Identität auf positive Weise an der öffentlichen allgemeinbildenden Schule –  und speziell in meinem Fall: am Gymnasium – ausgehend vom Hier und Jetzt mit Heranwachsenden reflektieren zu können und bei allen Themen des IRU immer wieder aufs Neue zu demonstrieren, wie die sich oft widersprechen zu scheinenden Identitätsanteile muslimischer Individuen durch Reflexion, Empathie und fundiertes Wissen auf Kohärenz gebracht werden können. Es geht mir darum Möglichkeiten der gleichzeitigen Zugehörigkeit zur christlich-säkular geprägten deutschen Gesamtgesellschaft, zum muslimisch geprägten familiären Herkunftsumfeld und zur islamischen Religion aufzuzeigen und dabei alle drei Identitätsanteile als positiv erfahrbare und sinnstiftende Ressourcen wahrzunehmen, die nicht in Konflikt zueinander stehen müssen, wenn man lernt sich in diesen bewusst und selbstständig zu orientieren. Es geht letztlich auch darum die über Jahrhunderte entstandenen Schieflagen im Verhältnis zwischen muslimischer und europäischer Identität zumindest ansatzweise zu korrigieren und Visionen einer gemeinsamen Zukunft in Würde, Zusammenhalt und gegenseitiger Achtung zu vermitteln. So ungefähr sieht meine Motivation dafür aus, den IRU und damit zwangsläufig auch eine so gewöhnungsbedürftige Konstruktion wie die Stiftung mit Begeisterung zu unterstützen.

4) Wieviel „konservative Gefahr“ geht von der Stiftung wirklich aus?

4.1) „Aber Verbände wie der LVIKZ sind doch konservativ, oder etwa nicht?“

„Aber Verbände wie der LVIKZ sind doch konservativ, oder etwa nicht?“ – Nun, dies kann durchaus sein. Damit meine ich: Zu sagen, dass ein Islamverband konservativ sei, erscheint mir nicht absurd. Zu klären wäre nur, was damit gemeint ist, und was genau an der jeweiligen Konservativität für wen ein Problem ist. Zunächst einmal ist „konservativ“ meist eine Fremdbezeichnung und ein ausgesprochen unsauber und vieldeutig verwendeter Begriff. So wird dieser Begriff sowohl für Christdemokraten in Deutschland, als auch für die türkische Gastarbeiterfamilien und auch für wahhabitischen Autoritarismus verwendet. Damit zusammenhängend ist festzuhalten: Der Begriff „konservativ“ kann nicht per se als Verurteilungskriterium verwendet werden, zumal Religion und Werteorientierungen sehr oft konservativ in dem Sinne sind, dass hier irgendetwas „bewahrt“ (lateinisch: conservare) werden soll. Man kann auch auf sehr reflektierte, konstruktive und kritische Weise konservativ sein (ich sage damit nicht automatisch, dass bzw. in welchem Umfang dies auf die Islamverbände zutrifft). Ebenso ist ein progressive islamische Theologie denkbar, die aber auf einem konservativen Boden fundiert ist, also sich beispielsweise methodisch in einer Kontinuität zur islamischen Tradition sieht und (auch „liberale“) Weiterentwicklungen von dort aus motiviert und legitimiert ohne deren Grundaxiome in Frage zu stellen.

Warum nicht?

(Zu unterscheiden wäre dies dann von einer beispielsweise autoritär-konservativen Haltung oder entsprechenden Praxis.)

Ferner ist „Konservativsein“ von der Religionsfreiheit abgedeckt – auch für Muslime. Und auch von keinem der sechs anderen Träger von Religionsunterricht in BW wird abverlangt, dass sie nicht „konservativ“ oder „orthodox“, sondern ausdrücklich „liberal“ sein sollen, indem sie sich demonstrativ von „Konservativen“ abgrenzen, statt das Spektrum ihrer Basis als Ganzes anzusprechen. Dass gleichzeitig laut den staatlichen Vorgaben auch bekenntnisorientierter Religionsunterricht immer die freiheitlich-demokratische Grundordnung respektieren und bei der inhaltlichen Vermittlung verfassungskonform bleiben muss, ist so selbstverständlich, dass wir diesen Aspekt nicht zusätzlich diskutieren müssen: Wer die Bühne des staatlichen Religionsunterrichts betritt, verpflichtet sich vorweg schon zu einer Reihe von Prinzipien, die im schulischen Kontext eingehalten werden müssen, auch wenn sie innerhalb der Glaubensgemeinschaft intern bis zu einem gewissen Grad anders gehandhabt werden dürfen, ohne automatisch ein Fall für den Verfassungsschutz zu werden. Die Geschichte der christlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften in Deutschland kennt viele Beispiele für dieses Spannungsverhältnis und wie es eingelöst werden kann, ohne dass der säkulare Staat eine Theologie „vordiktiert“. Etwas zugespitzter formuliert:

Die Glaubens- und Meinungsfreiheit von schulischen Lehrkräften, die zu Beginn ihres Amtes einen Eid auf die Verfassung und die freiheitlich-demokratische Grundordnung ablegen müssen, gilt eingeschränkter als für Personen außerhalb von Schule. Dies gilt selbstverständliche auch für IRU-Lehrkräfte und für die Gesamtheit der schulbezogenen Beschlüsse und Beiträge des Trägers.

In jedem Fall scheint es mir – ein Interesse an analytischer Präzision vorausgesetzt – ratsam auf undifferenziert verallgemeinernde und letztlich nichts Verbindliches aussagende Begriffe wie „konservativer Islam“ zu verzichten und lieber auf konkrete Aussagen, konkrete Praktiken, konkrete Forderungen und konkrete gesellschaftliche und pädagogische Auswirkungen zu schauen und diese zu beurteilen. Denn dafür gibt es klarere Kriterien zur Beurteilung und entsprechenden Maßnahmen der Handhabung, wenn etwas mal nicht in Ordnung ist.

Ich plädiere also nicht für eine Nicht-Betrachtung des Aspekts „Konservativität“, sondern für eine klarere Differenzierung verschiedener Aspekte und Ausprägungen davon. Dazu müsste man sich aber von den üblichen Dichotomien der hegemonialen Islamdebatte verabschieden, was zu mehr Rationalität und Gelassenheit bei gleichzeitig abnehmendem Publikumsinteresse und Skandalisierungsreiz führen würde. Diese Forderung mag unrealistisch sein. Wenn sich die deutsche Islamdebatte und letztlich auch die Qualität der akademischen islamischen Theologie und Religionspädagogik weitflächig weiterentwickeln soll, dann gibt es jedoch keine erkennbare Alternative für mich. Denn nur so kommen wir weg von einem Eifern um das öffentlichkeitswirksame Labeling auf die Ebene konkreter Thesen und wissenschaftlicher Argumente.

Um wieder konkret zu werden: Für die Zwecke des IRU sind für mich beispielsweise folgende differenzierte Fragen im Kontext der (real existierenden) Verbände maßgeblich:

  1. Versuchen Moscheegemeinden die womöglich eher auf Auswendiglernen und Imitation abhebenden Methoden ihrer Moscheepädagogik auch auf die Schule zu übertragen? (Um nicht falsch verstanden zu werden: Auswendiglernen und Imitation sind bedeutsame Teile muslimischer Sozialisation – aber eben nicht die einzigen und auch nicht die wichtigsten. In der Schule wären sie als didaktisches Grundmotto jedenfalls fehl am Platz. Ferner habe ich keinen Überblick, wie genau in Moscheen aktuell wirklich gearbeitet wird.)
  2. Versuchen Moscheeverbände ihr womöglich dogmatisches Islamverständnis auch in die Schule zu transportieren und somit die schulisch gewünschte Reflexions- und Diskursfähigkeit zu ersetzen durch engstirnigen Dogmatismus? (Um nicht falsch verstanden zu werden: Dogmatische Religionsverständnisse sind von der Glaubensfreiheit abgedeckt, auch wenn sie aus bildungstheoretischer Sicht für die Ausbildung einer echten religiösen Mündigkeit kontraproduktiv und zumindest für mich persönlich absolut uninteressant sind. Ferner kann ich nicht einschätzen, ob bzw. wie sehr welche Moscheen dogmatische Islamverständnisse vermitteln.)

In Bezug auf die Verbände in der Stiftung in BW habe ich nicht den Eindruck, dass diese hinsichtlich des IRU a) oder b) anstreben würden. Ihre bisherigen Bemühungen im Kontext der Stiftung zielten darauf ab im Rahmen der Idschaza-Ordnung, nach der Lehrbefugnisse vergeben werden, einen kleinsten gemeinsamen Nenner der sunnitisch geprägten Muslime zu etablieren (siehe nächster Abschnitt). Auch aus Hamburg, wo der VIKZ (der zum LVIKZ in BW analoge Landesverband) am IRU beteiligt ist, habe ich noch keine inhaltlichen Beschwerden über eine dogmatisch-konservative Gängelung durch die Verbände gehört, auch wenn dort die Idschaza-Regelungen „strenger“ als bei uns sind (siehe unten).

Die heftigsten Debatten um die Islamverbände, insbesondere um DITIB, kreisen auch gar nicht um ihre bisherige konkrete Wirkung auf den IRU, sondern um politische Dinge und Fragen, die bislang mit dem IRU, soweit ich sehe, fast nichts zu tun hatten. Hinzu kommt, dass die meisten der bedeutenderen Islamverbände trotz Jahre langer Bemühungen von Kritikern nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Insbesondere werden weder der LVIKZ, noch die IGBD, die offiziell den religiösen Part in der Stiftung innehaben, und die von Herrn Ourghi vollmundig als „Gefahr für unsere Demokratie“ denunziert werden, vom Verfassungsschutz beobachtet. Eine regelrechte Kriminalisierung der Verbände kommt in einem rationalen Diskurs als Argument nicht in Frage.

Man beachte hierbei, dass die Moscheen vor Ort meist eng mit anderen öffentlichen Einrichtungen, der Polizei und der Politik zusammenarbeiten – trotz aller kontroverser Fragen, die es im Kontext der Verbände eben auch gibt, und die alles andere als gelöst sind. Dass dies die Politik in ein großes Dilemma stürzt, ist klar. (Auf die mindestens so gravierenden Dilemmata, die sich dabei innerhalb der Verbände und der muslimischen Community auftun, möchte ich hier aus Platzgründen lieber nicht eingehen).

Etwas frech gesprochen: Man kann sich natürlich Islamverbände, die politisch absolut unkompliziert sind, zugleich die verfassungsrechtlichen Kriterien einer Glaubensgemeinschaft ohne Abstriche erfüllen und dabei ähnlich liberal glauben, denken und leben wie vollständig säkularisierte Milieus und manche Teile der christlichen Kirchen sehnlichst herbeiwünschen. Die Fakten scheinen sich nach aller empirischen Erfahrung jedoch offensichtlich nicht nach solchen Wünschen zu richten. Immer fehlt mindestens eine Komponente. Darum hat die pragmatische Vernunft (die auch ich anwerbe) im Unterschied zu den verbandskritischen Maximalisten im Moment mehr umsetzbare Vorschläge und Kompromisse für die Praxis anzubieten.

Die Stiftung ist ein solcher Kompromiss.

Mit all dem ist nicht gesagt, dass diese Verbände nun „nicht konservativ“ oder gar „liberal“ seien, sondern ausschließlich, dass sich eine solche Konservativität bislang nicht zu einer Verengung des IRU geführt hat. Nur in letzterem Fall würde ich mich ärgern und über die Verbände schimpfen. Was aber, wenn das für viele Kritiker*innen Undenkbare wahr geworden ist und sich die Islamverbände ihrer Verantwortung bewusst genug sind, um auf unüberlegte Experimente an einem seit Jahren gut laufenden IRU zu verzichten? Was ist, wenn die Verbände (oder konkreter: die paar wenigen Einzelpersonen in den Verbänden, die bei diesen Themen mitreden können und mitreden), gut zwischen Moschee und Schule unterscheiden können? Soziologisch betrachtet sind Schule und Moschee ohnehin zwei sehr unterschiedliche Sphären mit einer sehr geringen Durchlässigkeit. Und kann es nicht sein, dass es auch in „konservativen“ Islamverbänden einige oder mehrere freiheitlich denkende und deutschlandzentrierte Köpfe gibt, die vielleicht gerade anlässlich des IRU in ihren Verbänden mehr Gewicht bekommen könnten? (Hoffen ist immer etwas Gutes.)

Um auch hier nicht falsch verstanden zu werden: Für mich und meine persönlichen Interessengebiete im Kontext des Islams sind die spezifischen Inhalte und Ausrichtungen der Moscheeverbände völlig uninteressant (auch wenn ich ihre Moscheen zu Gebeten aufsuche, was bei Muslimen typischerweise keine „Nähe“ zum „Verband dahinter“ voraussetzt) und ich verspüre auch kein Bedürfnis mich religiös von diesen leiten zu lassen. Dennoch scheint es mir in vielerlei Hinsicht wichtig, dass nicht nur die Moscheeverbände mit der Öffentlichkeit in engem Austausch stehen, sondern dass auch Muslime, die sich mit einer Moschee identifizieren, mit Muslimen, die sich mit keiner Moschee identifizieren, kooperieren. Anders würde eine kohärente Weiterentwicklung der muslimischen Milieus in Deutschland deutlich erschwert werden. Ob der IRU langfristig von einer solchen „innerislamischen Kooperation“ profitieren wird, muss die Zukunft noch zeigen. In jedem Fall sind Spannungen hier nicht ausgeschlossen, ja sogar zu erwarten. Gleichzeitig wage ich es zu bezweifeln, dass der aktuelle Konflikt zwischen Herrn Ourghi und der Stiftung wirklich zu diesen Spannungen gezählt werden kann, da diese ja eine bereits in Gange befindliche Kooperation bzw. Kooperationsbereitschaft voraussetzen würde.

(Wir als Muslime können in dieser Hinsicht sicher noch viel vom innerchristlichen und innerjüdischen Diskurs lernen. Bei uns dominiert noch zu sehr die „Angst vor dem Bruder“ und das Ideal von der Alleinvertreterrolle als einzigem wirklich vertrauenswürdigen Zustand der Stabilität.)

Ich persönlich bin – aufgrund der verfassungsrechtlichen Bedeutung von so etwas wie Religionsgemeinschaften für Religionsunterricht – alleine schon aus pragmatischen Gründen interessiert daran, dass sich auch muslimische Strukturen, die eine breitere Basis erreichen als der aktuelle IRU alleine, im islamischen Religionsunterricht in einer angemessenen Form repräsentiert fühlen. Und was auch fundamental für Religionsunterricht und in der gesamten Debatte (einschließlich meiner Stellungnahme hier) zu kurz kommt: Eine Beteiligung von Islamverbänden trägt zu einer besseren Legitimierung des IRU gerade in den Augen besonders religiöser und dem staatlichen Religionsunterricht gegenüber womöglich skeptisch eingestellter Familien bei. Ob dies in Form einer unmittelbaren Beteiligung erfolgen muss, und was mit muslimischen Gruppen passieren soll, die nicht die Struktur einer Glaubensgemeinschaft haben, sind Fragen, die über diesen Text zu weit hinausgehen würden. Darum nun zurück zum Thema. Nach der eher allgemeinen Frage, ob „es“ mit „konservativen Islamverbänden“ überhaupt „geht“, wollen wir jetzt einen genaueren Blick in das Innere der Stiftung und ihrer „Praxis“ werfen.

4.2) Die Stiftung ist keine „islamisch-konservative“ externe Kraft, sondern eine staatsnahe und transparente Einrichtung

Ich präsentiere nun konkret dasjenige Gremium, das die Idschaza-Ordnung erlassen hat, und auf deren Grundlage Herr Ourghis Antrag aus formalen Gründen abgelehnt wurde. Die aktuelle Besetzung des Stiftungsvorstandes, der die inhaltliche Grundlinie des IRU seit 2019 verantwortet, sieht so aus (ich zitiere aus der Stiftungsseite)[17]:

„Mitglieder des Vorstandes sind:

Herr Bilal Hodžić, wohnhaft in Neu-Ulm, Magister des Islamischen Rechts und ehemaliger Imam in Ulm. Er ist Mitglied der Islamischen Gemeinschaft der Bosniaken.

Herr Seyfi Öğütlü, wohnhaft in Köln, von 2008 bis 2018 Generalsekretär und seit 2018 Vizepräsident des Verbandes der Islamischen Kulturzentren.

Herr Akin Aslan, Realschullehrer an einer Gemeinschaftsschule im Saarland und Lehrkraft u.a. für den islamischen Religionsunterricht.

Frau Emina Čorbo Mešić, wohnhaft in Stuttgart, muslimische Pädagogin, Bildungsreferentin und Autorin.“

Wie man der Liste entnimmt, ist genau ein Vorstandsmitglied dem LVIKZ zugehörig (Herr Öğütlü) und einer der IGBD (Herr Hodžić). Und wie schon gesagt: Herr Ourghi hat diesen beiden Verbänden vorgeworfen eine „Gefahr für unsere Demokratie“ zu sein. Man kann die Verbände sicher unter mehreren Aspekten kritisieren (ich hätte beispielsweise eine Reihe von Kritikpunkte am LVIKZ, den ich besser kenne als die IGBD). Jedoch halte ich es für absolut überzogen zwei Verbände, die nicht im Visier des Verfassungsschutzes stehen, und die offensichtlich über genügend „weltoffene“ Stimmen verfügen, dass sie sich in die staatsnahe Stiftung gewagt haben, so zu denunzieren. Wenn es wirklich um den IRU gehen soll, dann zählt primär, was sie in der Stiftung in Form der entsprechenden Personen an Konkretem beitragen. Und dieses war auf den mir bekannten Ebenen des IRU bislang in keiner Hinsicht „negativ“ auffällig für mich. Das ist aber kein Wunder: Keiner tritt einer Stiftung bei, wenn er die Grundausrichtung des laufenden IRU nicht mittragen möchte.

Die zwei weiteren Mitglieder des Vorstandes sind der nicht in Verbänden organisierte IRU-Lehrer Herr Aslan und die ebenfalls unabhängige muslimische Pädagogin Frau Čorbo Mešić.

Damit ist die Hälfte des aktuellen Vorstandes der „ultrakonservativen Stiftung“ also verbandsunabhängig.

Doch wie kann das sein? Zum Hintergrund dieser Konstellation heißt es in der Stiftungssatzung:

„Dem Vorstand gehören fünf Personen an. Die Mitglieder des Vorstands werden von den Gemeinschaften benannt. Bei drei der Mitglieder ist die vorherige Zustimmung des Landes erforderlich.“ [18]

Nachdem der dritte der vom Land BW aktiv bestätigten Vorstandsmitglieder (Herr Prof. Sejdini) kürzlich auf eigenen Wunsch ausgeschieden ist, ist die Hälfte des Vorstandes personell vom Ministerium mit bestätigt, und somit indirekt auch mit entschieden worden.

Hinzu kommt laut Stiftungssatzung:[19]

„An den Sitzungen des Vorstandes nehmen als Vertreter der Landesregierung beratend teil: Herr Mario Kaifel (Staatsministerium) und Herr Prof. Dr. Michael C. Hermann (Kultusministerium)“

Das bedeutet, dass gleich zwei Ministerien an den Vorstandssitzungen der Stiftung teilnehmen, wenn auch ohne jedes Stimmrecht etc. Ich behaupte mal: Dies ist mit Sicherheit der einzige Fall, in dem das Land den Sitzungen des Trägers von Religionsunterricht verbindlich beiwohnen darf.

Jetzt fehlt noch der aktuell für alle IRU-Lehrkräfte (und auch für mich) sichtbarste Akteur der Stiftung, nämlich der Geschäftsführer Herr Amin Rochdi. Dieser hat die Aufgabe die vom Vorstand erlassenen Grundsätze der Stiftung operativ umzusetzen, also z. B. durch Anwendung der Idschaza-Ordnung Lehrbefugnisse für Lehrkräfte auszustellen bzw. nicht auszustellen.

Doch wie ist dieser wichtige Posten besetzt worden und wie „verbandsnah“ ist dieser? Die Stiftungssatzung sagt dazu:

„Der Geschäftsführer oder die Geschäftsführerin soll dem sunnitischen Islam zugehörig und Bediensteter oder Bedienstete des Landes Baden-Württemberg sein.“[20]

Das bedeutet, dass dieser Posten durch einen Landesbeamten ausgefüllt wird, was die Menge der in Frage kommenden Personen extrem einschränkt. Ferner heißt es zur konkreten „Auffindung“ dieser Person in der Stiftungssatzung:

„Der Geschäftsführer oder die Geschäftsführerin und die weiteren Mitarbeiter bzw. Mitarbeiterinnen der Geschäftsstelle werden durch den Vorstand auf der Grundlage einer vom Land vorgelegten Liste, die das Ergebnis einer Ausschreibung unter Landesbediensteten darstellt, bestimmt und vom Land an die Stiftung abgeordnet. Weisungsbefugt gegenüber der Geschäftsstelle ist ausschließlich der Vorstand.“[21]

Das bedeutet, das auch an dieser operativ entscheidenden Stelle ein nur noch enger Spielraum für den Vorstand bzw. die Verbände geblieben ist. Nach einem längeren Verfahren fiel die Wahl des Vorstandes wie gesagt auf Amin Rochdi. Wer ist das? Herr Rochdi war bisher in mehreren Bundesländern in allen drei Phasen der Lehrerausbildung tätig, saß in mehreren Lehrplankommissionen und wirkte beim Verfassen mehrere Schulbücher für den IRU mit. Er kann mit Sicherheit zu den progressiven (manche würden sagen: zu den „liberalen“) Religionspädagogen im Kontext des IRU gezählt werden und kooperierte auch an seinen bisherigen Wirkungsstätten als Landesbeamter konstruktiv mit den am IRU beteiligten Islamverbänden – und aktuell beobachte ich eine exzellente Kommunikation zwischen ihm und allen mir bekannten Lehrkräften in IRU. Ich habe in seiner Anwesenheit schon mehrere Prüfungen im 2. Staatsexamen zum IRU abgenommen, da er an den Prüfungen als Vertretung für die Stiftung teilnimmt, und finde, dass er seine Arbeit auf sehr konstruktive und souveräne Weise macht.

Und er vermittelt gut zwischen den beteiligten Instanzen im IRU. Von einem Konflikt aufgrund einer „zu konservativen“ Vorstandskonstellation ist an keiner Stelle irgendwas zu spüren: Die Stiftung tritt bisher trotz seiner vielfältigen Zusammensetzung bislang aus meiner Sicht stets als kohärenter und kooperativer Akteur auf.

Ziehen wir ein Fazit zur Stiftungsstruktur: Die oben genannten Vorgaben sind – verglichen zu den weitgehend autonomen Trägerschaftsstrukturen aller anderen Religionsgemeinschaften – sehr eng gehalten und neben gewissen strukturell-organisatorischen Schwächen auf Seiten der Islamverbände wahrscheinlich auch der verbreiteten Skepsis gegenüber den Verbänden und etlichen Bedenken der Politik geschuldet. Eben dies meinte ich weiter oben, als ich sagte, dass es sich bei der Stiftung um einen Kompromiss handelt, der für keine Seite eine Ideallösung darstellt, aber dennoch laut aktuellem Stand gerade noch die verfassungsrechtlichen Kriterien für eine vorläufige IRU-Trägerschaft erfüllt.

Mehr braucht es aus meiner Sicht ohnehin nicht dringend.

Man kann dies auch vom anderen Ende her betrachten und die gut begründete Vermutung aufstellen: Von der Stiftung ist kein konservativer Reaktionismus und auch keine Umgehung der verfassungsrechtlichen Prioritäten des deutschen Staates zu erwarten.

Doch wie kann dies noch Religionsunterricht im Sinne von GG Art 7 Abs. 3 sein, wenn das Ministerium doch neben der reinen Aufsichtspflicht offensichtlich auch an so vielen anderen Stellen Einflussmöglichkeiten hatte?

Die Antwort hierauf liegt nach meinem Verständnis im Stiftungsvertrag[22] zwischen dem Land und den beiden im Vorstand vertretenen Verbänden: Darin haben die Verbände genau dieser Art von Struktur zugestimmt, wobei das Land an keiner Stelle religiöse Inhalte definiert oder vorgegeben hat. Und auch wenn strukturell der Spielraum für die Verbände in der Stiftung an manchen Stellen eng war, hängt der Fortbestand der Stiftung maßgeblich von deren weiterer Zustimmung ab.

Darum bitte: Vergrault uns die Verbände nicht!

Über alle anderen Punkte kann und will ich als juristischer Laie nicht urteilen.

Ich will vielmehr vier Fazits anfügen:

  • Die durch undifferenzierte Mediendarstellungen nunmehr weit verbreitete Befürchtung, dass sich über die Stiftung eine ultrakonservative Verengung des IRU ergeben könnte, ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit unbegründet. Falls in Zukunft doch Spannungen zwischen stark „konservativen“ Erwartungen auf der Verbandsseite und der progressiven IRU-Praxis auftreten sollten, so verfügt das jetzige System über genügend Akteure auf allen Ebenen der Ausbildung und Praxis, sowie über Mechanismen für eine vermittelnde Lösung.
  • Die freiwillige Selbsteinschränkung der Verbände bei der Errichtung dieser Struktur ist beachtlich und hätte eine wesentlich größere Aufmerksamkeit in den Medien verdient. Allerdings muss man hierzu auch in Rechnung stellen, dass es in BW seit 2006 überhaupt das erste Mal ist, dass Islamverbände offiziell in einen IRU-bezogenen Rahmen einbezogen und dafür mit immer noch erheblichen Kompetenzen versehen sind. Insofern liegt hier wohl eine in Deutschland aktuell seltene Win-win-Situation für das Land und für die beteiligten Islamverbände vor.
  • Die von Herrn Ourghi an anderer Stelle vorgebrachte Kritik, dass die Stiftung nur eine Fassade sei, die vollständig vom Ministerium kontrolliert werde, ist ebenso unrichtig wie seine These, dass eine integrativer IRU nur ohne jede Kooperation mit Islamverbänden möglich sei.[23] Abgesehen davon, dass es logisch kaum haltbar ist gleichzeitig die Stiftung als reine Fassade des Ministeriums zu bezeichnen und sie als Einfalltor der „ultrakonservativen“ Verbände darzustellen, entsprechen beide Aussagen nicht den seit 2019 für mich täglich beobachtbaren Tatsachen.
  • Ich persönlich bin sowohl dem LVIKZ, als auch der IGBD dankbar dafür, dass sie sich auf dieses Wagnis eingelassen und damit den Fortbestand des IRU ermöglicht haben und hoffe sehr, dass auch sie zufrieden sein können mit der qualitativ hochwertigen Arbeit, die landesweit für den IRU geleistet wird, und dass auch sie sich in dem Ergebnis wiederfinden können.

4.3) Die Stiftung ist bisher sowohl mit den IRU-Lehrkräften und Referendar*innen, als auch mit den Inhalten des IRU sehr liberal umgegangen

Ich möchte hier darstellen, welches Auftreten und welche Wirkung die Stiftung, mit der ich im Rahmen meiner Tätigkeit mehrere regelmäßige Berührungspunkte habe, seit ihrer Gründung 2019 in meinem eigenen Arbeitsbereich zeigt, und warum meiner Meinung nach auch künftig mit keiner deutlich reaktionären Einwirkung von Seiten der Stiftung zu rechnen ist. Für Letzteres werde ich zudem aufzeigen, dass der IRU in BW schon seit mehreren Jahren auf mehreren Ebenen einen stabilen Lauf hat, in den man schon alleine aus organisationssoziologischen Gründen nicht einfach „von oben“ eingreifen kann, ohne das ganze System zu blockieren.

Ganz wesentlich bei der Beurteilung der Stiftung sollte folgender Punkt sein: Alle Lehrkräfte, die einen Antrag auf die Lehrbefugnis für das Schuljahr 2021/22 gestellt und die ihre Zugehörigkeit zum sunnitischen Islam erklärt haben, haben die Lehrbefugnis erhalten.[24] Eine Aussortierung nach Kriterien wie „konservativ“ und „liberal“, wie sie über Herr Ourghi von ihm selbst und in zahlreichen Medienberichten mit Vehemenz behauptet wird, fand dort trotz dutzender Bewerbergespräche offensichtlich nicht statt. Dies war, wenn ich es richtig sehe, in den Berichterstattungen aber offensichtlich keine Nennung wert. Das ist bedauerlich.

Dass muslimische Lehrkräfte, die keine Zugehörigkeit zum sunnitischen Islam bestätigt haben, (ich glaube in drei Fällen) keine Lehrbefugnis für den „islamischen Religionsunterricht sunnitischer Prägung“ (wie er offiziell heißt), erhalten haben, kann durchaus als Schwachpunkt des Konzepts „Bekenntnisorientierung“ und „Konfessionalität“ gesehen werden, den man eigens diskutieren sollte. Aber man kann einer „Stiftung Sunnitischer Schulrat“ daraus sicher keinen größeren Vorwurf machen als beispielsweise gegenüber der katholischen Kirche, wenn sie sich verweigert einen Nichtkatholiken, oder evtl. gar Kirchengegner als Lehrkraft für katholischen Religionsunterricht zuzulassen.

Bisher hat die Stiftung weder mich, noch (soweit ich weiß) die unterrichtenden und angehenden Lehrkräfte aus meinem Bereich – dem Gymnasium – negativ überrascht oder enttäuscht. Im Gegenteil erfahren wir Wertschätzung, Unterstützung und Motivation durch die Stiftung, ohne bislang beobachtbare Versuche von Gängelung, autoritärer Bevormundung oder konservativen Bremszügeln. Seit dem Amtsantritt von Herrn Amin Rochdi als Geschäftsführer der Stiftung ist die Stiftung zudem als immense Stütze bei der Bewältigung diverser organisatorisch bedingter Engpässe für die unterrichtenden und angehenden Lehrkräfte im IRU sichtbar geworden.

Auch aus den anderen Schulbereichen habe ich nichts Negatives gehört.

Die von der Stiftung in BW eingeforderten Bedingungen für die Lehrbefugnis kreisen auf inhaltlicher Ebene um das Bekenntnis zum sunnitischen Islam – einem sehr weit gefassten Konzept –, ohne die Zugehörigkeit zu irgendeinem Moscheeverband oder zu einem Moscheeverein einzufordern.[25] Auch so etwas wie ein Empfehlungsschreiben einer Moschee muss nicht vorgewiesen werden. Mit diesen beiden nicht eingeforderten Bedingungen fällt die Idschaza-Ordnung der Stiftung in BW aktuell um einiges „liberaler“ aus als beispielsweise in Hamburg[26],  (womit ich deren „strengere“ Idschaza-Ordnungen nicht verurteilen möchte). In Hessen, wo es bis April 2020 einen vom Landesverband von DITIB verantworteten IRU gab, konnte optional ein Empfehlungsschreiben von Seiten einer Gemeinde eingereicht werden. Verlangt von der Stiftung in BW hingegen wird primär jedoch nur die Angabe, dass man die eigene Lebensführung den fünf Säulen des Islams und an den sechs Glaubensgrundsätzen ausrichtet. Die Richtigkeit der hierzu gemachten Angaben wird von Seiten der Stiftung nicht kritisch hinterfragt. Vertiefte Gespräche zu weiteren Fragen der Lebensführung sind nur für den Fall als Möglichkeit genannt, dass sich Eltern oder Schüler*innen über die Lehrkräfte beschweren. Meines Wissens ist es auch dazu noch nie gekommen. Ich finde, das sind insgesamt zumutbare Anforderungen an Lehrkräfte, die bekenntnisorientierten Islamunterricht erteilen möchten.

Und was aus meiner Sicht auch sehr bedeutsam ist: Weder die Stiftung, noch darin beteiligten Verbände (ja nicht einmal die nicht an der Stiftung beteiligten großen Landesverbände) haben bisher Beanstandungen zum IRU-Bildungsplan 2016 geäußert – obwohl dieser sowohl weit von einer für viele Moscheen üblichen katechetischen Wissensvermittlung entfernt ist, und zugleich eine originelle Synthese aus islamischer Tradition und modernen kontextualisierenden Zugängen darstellt. Diesen Punkt möchte ich im Folgenden etwas detaillierter ausführen.

4.4) Der IRU in BW und die damit verbundenen Studiengänge stehen seit Jahren schon auf wissenschaftlichen und freiheitlichen Füßen

These: Der IRU in BW braucht nicht erst noch einen liberalen Reformer um nicht in einem ultrakonservativen Eck zu landen. Dies will ich kurz begründen. Der Bildungsplan 2016 stellt in islamisch-theologischen Frage eine problemorientierte und pädagogische Synthese aus klassischen und modernen Elementen des innerislamischen Diskurses dar. Er wurde mehrere Jahre vor der Gründung der Stiftung von muslimischen Lehrkräften in BW, die sich zugleich als Landesbeamte im staatlichen Schuldienst befinden, geschrieben (ich selbst war daran beteiligt). In ihn sind Erfahrungen des seit 2006 bestehenden Modellprojekts in BW, sowie Erfahrungen aus anderen IRU-Bildungsplänen eingeflossen. Eine erstmalige Erweiterung erfuhr die IRU-Perspektive durch die Erweiterung des Bildungsplanes um eine gymnasiale Perspektive, die bis zum Abitur reicht. Das ist freilich noch neu (der Bildungsplan zur Kursstufe war lange vor dem Kursstufenunterricht da) und in vielerlei Hinsicht entwicklungsfähig.

Aber es ist für den Anfang dennoch nicht nur ambitioniert, sondern erweist sich auch aktuell während der Einrichtung der Kursstufe als wegweisend. So werden im Bildungsplan neben grundlegenden islamischen Themen auch zahlreiche heiße Eisen der aktuellen Debatten um den Islam thematisiert. Sie stellen daher auch einen wichtigen Schwerpunkt in meiner eigenen seminaristischen Referendar*innenausbildung dar.

Und auch das Zentrum für Islamische Theologie (ZITh) an der Uni Tübingen, wo die Gymnasialreferendar*innen zuvor studiert haben, bereitet die Studierenden auch auf brisante Themen vor und macht sie mit der gesamten Breite des zeitgenössischen innerislamischen Diskurses der Gegenwart sowie anderer zentraler Diskurse der Gegenwart vertraut, also neben traditionellen und etablierten Ansätzen auch mit Ansätzen, die man vereinfacht als „progressiv“ oder „reformorientiert“ bezeichnen kann. All dies wird dort seit Jahren in verschiedenen Kontexten thematisiert durch eine große Zahl an Professoren, Post-Docs und Doktoranden der islamischen Theologie und umliegender Fächer. Dies geschieht „trotz“ eines teils auch „konservativen“ Beirats am ZITh, „trotz“ der nun entstandenen Stiftung und auch „trotz“ zahlreicher praktizierender Muslime in der IRU-Community. Eine Kehrtwendung von der etablierten Problemorientierung ist allein aus soziologischen Gründen so gut wie undenkbar, wie sehr es auch (meiner Meinung nach konstruktive) Unterschiede in den Profilen und Vorlieben der einzelnen Lehrenden und der Studierenden gibt.

Ich selbst habe von 2011 bis 2020 islamische Religionslehre am ZITh nachstudiert (ab 2013/14 dann den Lehramtsstudiengang) und habe dabei etliche Hochschullehrkräfte kennengelernt und kann daher den inhaltlich weit und progressiv gehaltenen Fokus aus eigener langjähriger Erfahrung bestätigen. Beispiele: Meine eigene historisch-kritische Darstellung zu den Überlieferungen zum Konflikt des Propheten Muhammad mit den Juden von Medina, die auch von anderen Autoren immer wieder zitiert wird, ist aus einer Hausarbeit entstanden, die ich in einem Sira-Seminar am ZITh geschrieben habe. Eine sehr lange systematische Auseinandersetzung mit historischer Koranhermeneutik habe ich im Seminar „Methoden der islamischen Theologie“ durchgeführt. Neue und mir bis bislang wenig bekannte Zugänge zum islamischen Recht habe ich in Master-Seminaren zum islamischen Recht kennen und schätzen gelernt. Eine intensive Vertiefung zum Spannungsfeld zwischen Menschenrechten und Islam konnte ich im Seminar zur islamischen Ethik durchführen. Meine eigene vertiefte Einarbeitung in das religionspädagogische Konzept der Elementarisierung (Nipkow/Schweitzer) und ein Versuch meine eigene Fachdidaktik vor diesem Hintergrund zu reflektieren, wurde mir in einem gemeinsamen islamisch-christlichen Kooperationsseminar zur Religionspädagogik möglich. Das Studium am ZITH eröffnete mir einen immensen Schatz an Literatur, an islamisch-theologischen und islamwissenschaftlichen Autoren (auch nichtmuslimischer Prägung) sowie eine systematische Erarbeitung der arabischen Sprache.

Ohne jetzt abschätzig klingen zu wollen: All dies ging am ZITh auch ohne, dass nur einmal vom Islamreformer Herrn Ourghi die Rede war!

Aus zahlreichen Unterrichtshospitationen und Prüfungssituationen weiß ich ferner, dass die Lehramtsanwärter*innen im IRU an der Schule brisante Themen wie vermeintlich islamisch begründeten Terrorismus und Antisemitismus, Konfliktbereiche zwischen klassisch-islamischem Rechtsdenken und modernen Menschenrechten, patriarchalische Vorstellungen von Geschlechterrollen und Vereinbarkeitsfragen zwischen Naturwissenschaft und islamischen Primärtexten tatsächlich und mit Erfolg behandeln. Bei allen Themen erarbeiten sie auf exemplarische und didaktisch reduzierte Weise nicht nur die Spannungsfelder, sondern auch verschiedene Ansätze und Vorschläge zur Auflösung dieser Spannungsverhältnisse zu Gunsten der Ermöglichung eines reflektierten und bewussten Islamverständnisses, das die Schüler*innen und Schüler nicht in Konflikt mit der modernen und pluralistischen Lebenswirklichkeit in Deutschland bringt, und auch nicht mit ihrer muslimischen Teilidentität und den Grundfesten der islamischen Religion, sondern ihnen Möglichkeiten der Kohärenz zwischen ihren verschiedenen Identitätsanteilen aufzeigt. Das entscheidende ist nun: Die Stiftung hat bis heute keinen Einspruch gegen diesen Kurs eingelegt!

Um nicht falsch verstanden zu werden: Weder der IRU an der Schule, noch die Ausbildung an der Hochschule konzentrieren sich permanent auf die vielen Konfliktthemen rund um den Islam aus den Medien und der aktuellen Weltpolitik. Aber sie bezwecken neben der Vertrautmachung mit den Grundlagen islamischen Glaubens und islamischer Identität auch die Befähigung zum konstruktiven und fundierten Umgang mit den zahlreichen Konfliktthemen rund um den Islam in der Gegenwart, ohne dazu erst muslimische Identität und islamische Glaubensgrundlagen aufgeben zu müssen. Insbesondere vermeiden es nahezu alle Beteiligten am IRU zwischen „liberalen“ und „konservativen“ Muslimen oder Islamverständnissen zu unterscheiden, da diese Begriffe mittlerweile polemische Begriffe sind, die von allen möglichen Seiten sehr unterschiedlich aufgeladen und instrumentalisiert werden und letztlich wirkliche inhaltliche Auseinandersetzungen erschweren.

Aber alles Genannte wird aktuell durch den „Konservativitäts“-Vorwurf, der sich gegen die Stiftung und damit implizit auch gegen den IRU richtet, unter den Teppich gekehrt und somit letztlich ignoriert, während Herr Ourghi als Schlüsselfigur für einen integrativ wirksamen IRU hochstilisiert wird. Dabei ist es mir nochmals wichtig zu betonen: Der progressive inhaltliche und pädagogische Bestand des IRU ist aktuell auch mit der Stiftung bzw. den darin vertretenen Verbänden offensichtlich nicht gefährdet – sonst hätte ich es mitbekommen!

4.5) Macht und Ohnmacht der Stiftung an Hochschulen

Betrachten wir nun noch, welche konkreten Einflussmöglichkeiten die Stiftung an der Hochschule über den Weg der Lehrbefugnis wirklich hat (soweit es die wenigen mir zugänglichen Quellen hergeben). Ein erster Blick auf die Informationen der Stiftungsseite legt nahe, dass die Stiftung damit über wesentlich weniger Macht verfügt, als etliche Medienberichte suggeriert haben. Eine Art echtes Lehrverbot[27] für Hochschullehrkräfte beispielsweise kann die Stiftung nicht aussprechen, da die Stiftung keinen direkten Einfluss auf die Praxis an den Hochschulen und auch keinen Einblick in Verträge hat. Auch eine Verweigerung einer Verlängerung der Lehrbefugnis durch die Stiftung[28] ist aktuell kein Thema, da dafür schon zuvor Lehrbefugnisse hätten ausgestellt sein müssen, was wohl für kaum jemanden der Fall ist. Im Moment ist es gar so, dass sehr viele, wenn nicht die meisten IRU-Hochschullehrkräfte auch künftig gar keine ausdrückliche Lehrbefugnis benötigen – und was nicht benötigt wird, kann auch nicht entzogen werden.

Denn im Unterschied zu den IRU-Lehrkräften an Schulen hält die Stiftung für Hochschullehrkräfte fest: „Einen [sic!] Antrag auf Lehrbefugnis ist nur von derjenigen Hochschullehrkraft zu stellen, die nach Gründung der Stiftung Sunnitischer Schulrat, also nach dem August 2019 an einer Hochschule in Baden-Württemberg angestellt wurde.“[29] Und: „Die zum Zeitpunkt der Errichtung der Stiftung Sunnitischer Schulrat an den Pädagogischen Hochschulen tätigen oben genannten Personen benötigen bis zum Ende der Befristung ihres jeweiligen Dienst- bzw. Arbeitsverhältnisses zuzüglich der derzeit gesetzlich vorgesehenen Verlängerungsgründe keine Lehrbefugnis.“[30] Das bedeutet letztlich, dass die Stiftung nur im Fall eines neuen Arbeitsvertrages an einer Hochschule durch Nicht-Ausstellung der Lehrbefugnis, die freilich wohl begründet sein müsste, Einfluss nehmen kann.

Ferner kann es sein, wenn man den obigen Passus der Stiftung wörtlich nimmt, dass unabhängig von der Frage des Termins eines Hochschulvertrages ohnehin nur ein Bruchteil der an den Hochschulen im IRU-Bereich dozierenden Personen überhaupt vom Thema Lehrbefugnis betroffen ist. So liest man im Wikipedia-Eintrag zum Thema „Hochschullehrer“: „Nur ein knappes Zehntel der Dozenten an deutschen Hochschulen sind rechtlich gesehen Hochschullehrer.“[31] Gemeint sind damit insbesondere Personen, die den Titel Professor*in, Junior-Professor*in oder Hochschuldozent*in (im BW) tragen. Ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen, die Lehrveranstaltungen leiten, wären demnach nicht verpflichtet einen Lehrbefugnis zu beantragen – wenn man den obigen Passus von der Stiftungsseite wörtlich nimmt. (Einschränkend muss ich hierzu sagen: Ob ich diesen Punkt überinterpretiert habe, weiß ich nicht mit Sicherheit.)

Und was hätte die Stiftung für Instrumente in der Hand, wenn Hochschullehrkräfte, die eine Lehrbefugnis bräuchten, aber sie nicht erhalten, dennoch – mit welcher Begründung auch immer – von ihren Hochschulen in der IRU-Ausbildung eingesetzt werden? Die Antwort lautet: fast gar nichts. Die maximale praktische Auflage, die die Stiftung in so einem Fall – IRU-Hochschullehrkraft ohne die notwendige Lehrbefugnis – wirklich durchsetzen kann, ist nach allem Erkennbaren die, dass sie das obligatorische Kennenlerngespräch, das alle IRU-Lehramtsanwärter*innen mit der Stiftung führen müssen, nicht erst im Referendariat, sondern schon im Studium als Bedingung für eine Zulassung zum Referendariat durchführt.[32] Eine solche Regelung war noch vor der Causa Ourghi und ohne Namensnennung für die Studienstandorte Freiburg und Weingarten festgelegt worden.[33] Dies wiederum ist eine Folge nur für die Studierenden, und nicht für die Hochschullehrkräfte. Dies ist gemessen an der Brisanz des Themas „verweigerte Lehrbefugnis für Hochschullehrkräfte“ mit Sicherheit eine sehr schlanke Konsequenz. Freilich könnte eine Verfestigung einer solchen Situation langfristig die Attraktivität eines solchen Standortes für Studieninteressierte schmälern.

5) Misst die Stiftung bei Herrn Ourghi aktuell nun mit zweierlei Maß, oder nicht?

Freiheitlich orientierte Grundhaltungen und Koranauslegungen alleine wären meines Erachtens kaum ein gänzlicher Ausschlussgrund durch die Stiftung aus der IRU-Lehrkräfteausbildung, wenn man die vorigen Punkte berücksichtigt: Der IRU ist jetzt schon reich an personeller und inhaltlicher Vielfalt. Und die freiheitliche Grundausrichtung von Schule überhaupt macht es sehr unwahrscheinlich, dass Offenheit für theologische Weiterentwicklung und für freiheitliche Perspektiven schon ausreichen, um „zu liberal“ für die Stiftung zu sein. Und doch scheint laut Herrn Ourghi und vielen kritische Stimmen gerade Herr Ourghis vermutete Liberalität die eigentliche Frontenlinie zu sein. Diesen Fragen wollen wir uns daher näher widmen, wobei in diesem Kapitel einige der aktuelle „formalen“ Ausschlussgründe beleuchtet werden sollen. Im nächsten Kapitel werden wir uns dann die „Liberalitätsfrage“ genauer anschauen.

Schauen wir uns nun nochmals die einander gegenüberstehenden Positionen genauer an. Volker Hasenauer von der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA, 23.6.21) bringt es auf den Punkt:

„Ourghi wirft der Stiftung vor, ihn wegen seiner liberalen Positionen für eine moderne Islamauslegung zu behindern. Er hat sich wiederholt für eine grundlegende Reform von Theologie und religiöser Praxis des Islam ausgesprochen. Nötig sei eine islamische Aufklärung und die Ausbildung eines europäischen Islams. Scharfe Kritik übt der Wissenschaftler an verschiedenen islamischen Verbänden in Deutschland, die für einen rückwärtsgewandten, extrem konservative Religion stünden. Ourghi bezeichnet auch die Stiftung Sunnitischer Schulrat, die vom Landesverband der Islamischen Kulturzentren Baden-Württemberg und von der Islamischen Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland getragen wird, als extrem konservativ.“[34]

In einer Stellungnahme des Sunnitischen Schulrates vom 9. Juli 2021 hingegen liest man: 

„Dozierende an den Hochschulen im Fach Islamische Theologie/Religionspädagogik brauchen eine religiöse Lehrbefugnis. Die Stiftung vergibt diese anhand von Kriterien, die sie mit Zustimmung des Landes in einer für alle einsehbaren Idschaza-Ordnung niedergelegt hat. Eine Voraussetzung ist ein Lehramtsstudium oder eine gleichwertige Ausbildung, die in Deutschland seit vielen Jahren angeboten wird. Diesen Nachweis hat der betreffende Dozent trotz vielfacher Aufforderung bislang nicht geführt, gleichzeitig aber auf eine baldige Entscheidung durch die Stiftung gedrängt. Gegen diesen Bescheid geht er vor der Schiedskommission vor. Über dessen theologische Positionen ist ggfs. zu einem späteren Zeitpunkt zu verhandeln. Darüber hinausgehende Behauptungen des Dozierenden sind seine persönliche Sichtweisen und nicht durch Fakten oder Akteninhalt gedeckt. Die Stiftung Sunnitischer Schulrat bedauert, dass nun weitere Akteure die Narrationen des Dozierenden übernehmen, ohne sich – zum Beispiel durch die Einsichtnahme in den entsprechenden Bescheid – kundig gemacht zu haben.“[35]

Das bedeutet für mich: Laut Stiftung ist eine inhaltliche Auseinandersetzung momentan nicht Thema, wenn auch künftig nicht automatisch ausgeschlossen. Doch im Moment sind es eindeutig nur objektiv ermittelbare formale Kriterien, zu deren Klärung Herr Ourghi noch nicht alle nötigen Dinge beigetragen habe. Das würde heißen: Die formalen Klärungen stehen trotz erster Ablehnung noch am Anfang.

Doch nun, wo diese Fragen in Arbeit sind, kommt Herr Ourghi öffentlich an allen Stellen direkt auf die Liberalitätsfrage zu sprechen, die er als seinen Ausschlussgrund ansieht, während die Stiftung darauf besteht, dass eine solche Diskussion zwecklos ist, wenn schon die formalen Kriterien, die objektiv und nicht personenspezifisch festgelegt sind, nicht erfüllt sind.

Was soll man nun davon halten?

Hat die Stiftung jetzt einfach nur „Glück gehabt“, weil sie den auch aus inhaltlichen Gründen womöglich nicht gewünschten Herrn Ourghi bereits aus formalen Gründen zurückweisen und sich damit vor einer inhaltlichen Stellungnahme drücken konnte?

Ist es vermessen von der Stiftung zu erwarten, dass sie bei einem seit zehn Jahren schon Lehrkräfte ausbildenden und in Islamwissenschaften promovierten Akademiker Ausnahmeregelungen gelten lässt, indem sie die islamwissenschaftliche Promotion als Ersatz für ein religionspädagogisches bzw. islamisch-theologisches Studium gelten lässt?

Oder werden hier Herrn Ourghi absichtlich Steine in den Weg gelegt?

In einer weiteren umfangreichen Stellungnahme, die offensichtlich anlässlich der Causa Ourghi verfasst wurde, schreibt die Stiftung als Antwort auf eine entsprechende Behauptung:

„Behauptung: Die Stiftung Sunnitischer Schulrat erkenne bewusst artverwandte Studiengänge wie das Studium der Islamwissenschaft nicht als adäquate Ausbildung an.

[Antwort:] Im Landeshochschulgesetz (LHG) Baden-Württemberg heißt es unter §47 (3), dass „auf eine Stelle, deren Funktionsbeschreibung die Wahrnehmung erziehungswissenschaftlicher oder fachdidaktischer Aufgaben in der Lehrerbildung vorsieht, […] in der Regel nur berufen werden [soll], wer eine dreijährige Schulpraxis nachweist“. Eine solche Schulpraxis setzt selbstredend ein Studium des Lehramts voraus. Mit Blick v.a. auf die Lehramtsstudiengänge ist das insofern sinnvoll, da neben der Lehre fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Seminare und Vorlesungen im Rahmen der Lehramts-Studiengänge schulpädagogische Praktika essenzielle Bestandteile der Studiengänge sind. Diese müssen vom Lehrpersonal organisiert, durchgeführt und verantwortet werden…

Das Studium der Islamwissenschaft ist kein Lehramtsstudiengang und ist ebenfalls nicht mit der Fachdisziplin Islamische Theologie gleichzusetzen. Die Differenz zwischen dem Fach der Islamwissenschaft und der Islamischen Theologie ist im vergangenen Jahrzehnt an vielen Stellen, insbesondere in der Etablierung der Islamischen Theologie/Studien an Universitäten, wissenschaftlich ausführlich diskutiert worden….

Die Antragsteller:innen, die eine Lehrbefugnis beantragen, müssen aus diesem Grund Kompetenzen im Bereich der Islamischen Theologie und der Didaktik und Schulpädagogik mitbringen und diese mit entsprechenden Nachweisen belegen können. Nur durch ein entsprechend ausgebildetes Personal an den Schulen ist eine fachlich korrekte Ausbildung der Lehramtsstudierenden zu gewährleisten.“ [36]

Offensichtlich genügen der Stiftung die von Herrn Ourghi eingereichten Abschlusszeugnisse (Philosophiestudium in Algerien, islamwissenschaftliche Promotion in Deutschland) also nicht um eine inhaltliche Gleichwertigkeit zum gewünschten IRU-affinen Lehramtsstudium zu bescheinigen.[37] In jedem Fall kann meines Erachtens, auch ausgehend von dem Hinweis auf das in den Medienberichten übersehene Landeshochschulgesetz, kaum behauptet werden, dass die formalen Kriterien der Stiftung nicht objektiv und nicht grundsätzlich nachvollziehbar seien.

Ob die Schiedskommission der Stiftung, an die der jetzige Einspruch von Herrn Ourghi gerichtet ist, trotzdem eine Ausnahmeregelung mit Blick auf Plausibilität und Billigkeit erwirken kann bzw. wird, wird sich vermutlich in nächster Zeit zeigen. Ich halte dies nicht für undenkbar, zumal die Stiftung noch am Anfang ihrer Tätigkeit steht und eben nicht auf Erfahrungen im adäquaten Umgang mit Anfragen wie der von Herrn Ourghi besitzt. Aber an einer Sache besteht aus meiner Sicht kein Zweifel: Der von Herrn Ourghi mit viel medialer Unterstützung angeschlagene Ton gegenüber der Stiftung und praktisch allen darin tätigen Akteuren ist mit Sicherheit ein denkbar schlechter Stil, den man gegenüber einer Einrichtung einschlagen kann, die man doch gerade zum Entgegenkommen bewegen will um eine Lehrbefugnis zu erhalten.

Zur Präzisierung: Diese Notwendigkeit für eine Lehrbefugnis für Hochschullehrkräfte besteht zumindest dann, wenn ein Hochschuldozent plant nach der Gründung der Stiftung, einen neuen Arbeitsvertrag mit der entsprechenden Hochschule zu schließen. Es ist also gar nicht klar, ob Herr Ourghi die Lehrbefugnis überhaupt braucht. Denn die Stiftung hat hierzu, wie weiter oben schon erwähnt, klargestellt:

„Einen Antrag auf Lehrbefugnis ist nur von derjenigen Hochschullehrkraft zu stellen, die nach Gründung der Stiftung Sunnitischer Schulrat, also nach dem August 2019 an einer Hochschule in Baden-Württemberg angestellt wurde.“[38]

Diese Regelung war schon im Stiftungsvertrag 2019 festgehalten worden, ist also keine Reaktion auf den Fall von Herrn Ourghi:

„Die zum Zeitpunkt der Errichtung der Stiftung Sunnitischer Schulrat an den Pädagogischen Hochschulen tätigen oben genannten Personen benötigen bis zum Ende der Befristung ihres jeweiligen Dienst- bzw. Arbeitsverhältnisses zuzüglich der derzeit gesetzlich vorgesehenen Verlängerungsgründe keine Lehrbefugnis.“[39].

Das bedeutet insbesondere, dass die Stiftung Herrn Ourghi kein Lehrverbot erteilen kann. Und insbesondere kann sie nicht in seinen laufenden Lehrbetrieb an der PH Freiburg eingreifen. Sie könnte jedoch, bei bleibender Verweigerung der Lehrbefugnis, ihn daran hindern in seinem bisherigen Bereich weiter aufzusteigen. Insofern stellt sich durchaus die Frage: Was ist der genaue Sinn von Herr Ourghis öffentlicher Offensive gegen die Stiftung, wenn er doch zugleich auch den Eindruck weckt, dass er auf deren Entgegenkommen pochen muss?

Ob die von der Stiftung verlangten und zeitlich vor der Causa Ourghi in der Idschaza-Ordnung[40] festgelegten und öffentlich einsehbaren Kriterien für die Lehrbefugnis adäquat sind, mögen die Leser*innen beurteilen – ebenso die von den Kritikern der Stiftung oft zu hörende These, dass Herr Ourghis islamwissenschaftliche Promotion und seine über mehrere Jahre verrichtete Dozententätigkeit zur Religionspädagogik keine Zweifel an seiner grundlegenden Qualifikation in islamisch-religionspädagogischen und islamisch-theologischen Dingen zulassen würde.

Hinzu kommt noch ein weiteres häufig zu hörendes Argument, an das ich mit einer kleinen persönlichen Anekdote ein kritisches Fragezeichen dranmachen möchte, nämlich, dass der Studiengang, dessen Studium von der Stiftung verlangt wird, zu Zeiten des Studiums von Herrn Ourghi noch gar nicht existierte.  

Ich selbst habe an verschiedenen Stellen an der Entwicklung des IRU in BW mitgearbeitet, insbesondere im gymnasialen Bereich. Aktuell bilde ich in BW den vierten Jahrgang an Referendarinnen und Referendare im gymnasialen IRU aus. Trotzdem hat die Stiftung auch von mir ein entsprechendes abgeschlossenes Studium für meine Tätigkeit verlangt, und das, obwohl ich 2007 schon mein Diplom- und erstes Lehramtsstudium abgeschlossen hatte und das verlangte Studium in Islamischer Religionslehre für das Lehramt am Gymnasium erst im Jahre 2013 eingeführt wurde. Dennoch konnte ich dieses Studium („Islamische Religionslehre im Hauptfach am Gymnasium“) nachweisen, da ich von der Gründung des Zentrums für Islamische Theologie an der Uni Tübingen im Jahre 2011 berufsbegleitend und aus reinem Interesse (auf eigene Kosten und als Pendler aus Stuttgart) bis zum Jahr 2020 alle an die vierzig Leistungsnachweise erworben habe, die für das erst 2013 offiziell eingeführte Lehramtsstudium notwendig waren. Weder hat die Uni mir bei irgendeinem Leistungsnachweis einen Altersbonus, noch sonst irgendwelche Ermäßigungen gewährt, noch kam die Stiftung mir mit Szenarien einer Anrechnung alternativer Leistungen und Lehrerfahrungen entgegen. Wenn ich darf, dann folgere ich jetzt mal: Es ist prinzipiell möglich ein neu entstehendes Fach, an dessen Entstehung man vielleicht sogar selbst mitgewirkt hat und/oder mitwirkt, nachzustudieren, auch als berufstätiger Mensch.

Ich will mit meiner Anekdote nun nicht aussagen, dass Herr Ourghi, oder andere Personen in ähnlicher Lage, meiner Meinung auf alle Fälle das relevante Fach nachstudiert haben müssten. Aber da in einigen Medienberichten das Fehlen des Studiums von Herrn Ourghi mit dem besagten Umstand gerechtfertigt wird, und da nun der Stiftung die Tatsache, dass sie sich wohl wirklich nur an ihre Idschaza-Ordnung hält, fast wie ein Verbrechen beurteilt wird, möchte ich eben widersprechen und sagen: Das Argument, dass solche neu eingeführten Fächer für berufstätige Ausbilder*innen nicht nachstudierbar sind, kann ich nicht wirklich nachvollziehen. Man bedenke dazu auch, dass man an mehreren Standorten in und außerhalb von Baden Württemberg schon lange vor 2010 im Rahmen eines Lehramtstudiums IRU als Zusatzqualifikation studieren konnte, also auch bevor diese als eigenständige Lehramtsfächer vor einigen Jahren eingeführt wurden.

Insofern gilt: Wenn für Herrn Ourghi eine Ausnahmeregelung hinsichtlich der Formalia gefordert wird, dann sollte hierzu nicht mit dem schlecht belegten „er hätte es doch gar nicht studieren können“ argumentiert werden, sondern mit einer Klärung, welche Vorzüge von Herrn Ourghi genau als so relevant für die Sache erachtet werden, damit die Forderung nach einer Ausnahmeregelung plausibel und in sich schlüssig wird. Denn etwas anderes als eine Ausnahmeregelung ist es wohl nicht, was hier gefordert wird.

Hierzu folgende Überlegung: Nicht, dass meiner Meinung nach das Statement „Dritter“ nun ein weiteres Idschaza-Kriterium werden sollte – mir geht es nur darum zu verdeutlichen, dass die medial multiplizierten Argumente, mit denen man Herrn Ourghi unterstützen möchte, bei genauerer Betrachtung kontraproduktiv sind, da gefühlt alle zu Wort kommen, außer denen, die im unmittelbaren Wirkungsbereich von Herrn Ourghi stehen. Dabei könnten über mögliche Vorzüge von Herrn Ourghi womöglich andere islamische Theolog*innen und Religionspädagog*innen, die Schnittmengen mit seinem Arbeitsbereich haben, objektiv urteilen. Am wirkungsvollsten wäre es dabei direkt Absolvent*innen und Studierende von Herrn Ourghi zu ihrem Eindruck von ihm befragen.[41] In jedem Fall scheint es aus meiner Sicht kontraintuitiv, bei einer Debatte um einen bekenntnisgebunden unterrichtenden islamischen Religionspädagogen den Stimmen von so vielen verschiedenen außenstehenden Personen Gewicht beizumessen, aber an fast keiner einzigen Stelle auf die Meinungen der eigentlichen Abnehmer*innen oder Kolleg*innen von ihm einzugehen. Man vergesse nicht: Herr Ourghi soll im Rahmen der aktuellen Diskussion letzten Endes im expliziten oder impliziten Auftrag der Glaubensgemeinschaft Lehrkräfte für bekenntnisorientierten Islamunterricht ausbilden – also das machen, was alle anderen Religionspädagogen in den anderen Religionen ebenso tun. Darum wäre es konsequent als Medium sich auch Stimmen aus der Glaubensgemeinschaft zu Herrn Ourghi anzuhören, da die einen tieferen Einblick in manche Aspekte der Thematik erlauben könnte, als die dann doch sehr vereinfachenden Darstellungen in der momentanen Debatte. Und wie gesagt: Solches darf sicher nicht relevant für einen Antrag auf Lehrbefugnis sein. Aber angesichts der starken Betonung der Person Herr Ourghis in vielen geradezu apologetischen Medienberichten empfinde ich es als Lücke, dass darin nur Herr Ourghi selbst sowie wohlwollende Stimmen Außenstehender und die wenigen unpersönlichen Richtigstellungsversuchen der Stiftung zur Sprache kommen.

Zusammengefasst:

(1) Herr Ourghis Anliegen eine nicht ausgestellte Lehrbefugnis anzuprangern, nachdem er zehn Jahre lang an der PH Freiburg angehende islamische Religionslehrkräfte ausbilden durfte, kann ich absolut nachvollziehen und ich fordere von der Stiftung, dass er auf selbstverständliche und faire Weise nach denselben Kriterien (einschließlich von noch anzustellenden Billigkeits- und Plausibilitätsabwägungen) gemessen wird, wie alle anderen, die sich um eine Lehrbefugnis bei der Stiftung beworben haben und bewerben werden.

(2) Aber genau dies könnte ein Problem darstellen: Herr Ourghi kann auf den ersten Blick nicht nach denselben formalen Kriterien gemessen werden, wie andere potenzielle Antragssteller, wenn es als selbstverständlich ausgemacht gelten soll, dass er die Lehrbefugnis erhält. Denn die in der Idschaza-Ordnung festgehaltenen Kriterien fallen im Moment eventuell zu seinen Ungunsten aus, wobei das Einspruchsverfahren allerdings noch läuft. Auch sind viele Stimmen in den Medien ebenfalls der Meinung, dass man für ihn Sonderregelungen bräuchte, da er das gewünschte Studium aufgrund der eher späten Einführung gar nicht hätte studieren können. Ob die Schiedskommission oder danach evtl. das Verwaltungsgericht eine Sonderregelung vorsieht, wird sich noch zeigen.

Damit ist mein Plädoyer für eine fairere und realistischere Betrachtung und Beurteilung der Stiftung abgeschlossen. Ich möchte diese Stellungnahme mit der für viele wohl drängendsten und spannendsten Frage in der ganzen Diskussion abschließen:

Ist der tiefer liegende Konflikt hier doch einer zwischen liberalen und konservativen Muslimen?

6) Ist Herr Ourghi letztlich zu liberal für konservative Muslime?

6.1) Vorüberlegungen: Ist Kritik an Herrn Ourghi automatisch „konservativ“?

Es besteht kein Zweifel daran, dass die in der Stiftung vertretenen Islamverbände mit Herrn Ourghi in mehreren inhaltlichen Punkten nicht übereinstimmen dürften. Diese Punkte sind jedoch in sich nochmals vielfältig und lassen sich nicht ohne weiteres unter einer einzigen Kategorie sammeln. Insbesondere gibt es auch außerhalb der Islamverbände sehr viele Muslim*innen – „konservative“ wie „liberale“ –, die mehreren von Herrn Ourghis theologischen und politischen Positionierungen deutlich widersprechen würden (ich bin einer von diesen), wenn auch mit teils anderen Schwerpunkten als die Islamverbände. Ebenso gibt es auch nicht muslimische Stimmen, beispielsweise aus der Islamwissenschaft, die Herrn Ourghis Darstellungen widersprechen. Diese in den aktuellen medialen Darstellungen übersehenen, aber anlässlich des aktuellen Konflikts aus meiner Sicht sehr wichtigen Punkte sollen im Folgenden exemplarisch beleuchtet werden. Unabhängig davon, wie der Entscheid der Schiedskommission ausfallen wird, ist davon auszugehen, dass der angenommene tiefer liegen Konflikt – „konservativ“ vs. „liberal“ – am Beispiel von Herrn Ourghi auch künftig noch in Zentrum der öffentlichen Debatte stehen wird, sodass es aus meiner Sicht sinnvoll ist meine Stellungnahme mit einigen kritischen Überlegungen zur Frage abzuschließen:

Ist Herr Ourghi einfach „zu liberal“ für „konservative“ Muslime?

Im Folgenden möchte ich zeigen, warum sich entgegen den Implikationen vieler medialer Darstellungen nicht nur traditionell orientierte Muslim*innen, sondern auch viele Muslim*innen, die ein freiheitliches, oder gar sich als liberal verstehendes Islamverständnis haben, sich sehr schwer mit vielen von Herrn Ourghis Positionen tun. Mein Ziel ist erreicht, wenn deutlich wird, dass gegen Herrn Ourghis Sichtweisen nicht nur aus islamisch-traditioneller Perspektive, sondern auch aus progressiver und islamwissenschaftlicher Perspektive Gegenargumente hervorgebracht werden, die in einem seriösen Diskurs nicht einfach unter den Tisch fallen dürfen. Diese sollte man zumindest exemplarisch kennen, um nicht jede inhaltliche Kritik an Herrn Ourghi sofort als konservativen Reflex gegen liberale Aufklärungsbemühungen o. ä. zu verstehen.

Ich persönlich interessiere mich sehr für kontroverse Positionierungen in der deutschen Integrationsdebatte, sowie für zeitgenössische Neuansätze in der islamischen Theologie, und somit auch für die konkreten Inhalte von Herrn Ourghis Reformideen. Und ich habe im Verlauf meiner Auseinandersetzung mit seinen Büchern zu mehreren zentralen Punkten daraus eine kritische Meinung entwickelt. Meine kritische Meinung richtet sich nicht gegen die Idee eines europazentrierten und aufgeklärten Islamverständnisses, noch gegen die von Herrn Ourghi zurecht artikulierte Notwendigkeit eines freiheitlicheren und vernunftbezogeneren Zugangs zur Religion. Ich würde sogar sagen, dass diese Punkte das gemeinsame Anliegen sehr vieler muslimischen Denker*innen unterschiedlichster Couleur seit nunmehr über zweihundert Jahren darstellen, gerade auch in vielen religiösen Kreisen, wie ich aus eigener Erfahrung sehr gut weiß. Für den IRU in Deutschland sind diese Punkte – explizit oder implizit – immer schon selbstverständliche Prämissen gewesen, somit natürlich auch für den IRU in BW, sei es mit oder ohne Stiftung. 

Was mich an Herrn Ourghis Zugang zu dieser Thematik stört, sind einige andere markante Punkte darin. Bevor ich diese exemplarisch darstelle, möchte ich mich zu den Begriffen „konservativ“ und „liberal“ äußern, die in dieser Debatte eine zentrale Rolle spielen. Was ich im Folgenden sage, gilt sehr ähnlich auch für Begriffsbildungen wie „konservativer Islam“, „liberaler Islam“ und „Reformislam“. Diese Begriffe sind nicht nur inhaltlich schlecht definiert und semantisch problematisch (warum sprechen wir beispielsweise nicht von „Islamverständnis“ statt von „Islam“?), sondern werden auch politisch oft weit außerhalb eines wissenschaftlich haltbaren Rahmens zweckentfremdet. Um den Text einfach zu halten, konzentriere ich mich hier nur auf die Begriffe „liberale Muslime“ und „konservative Muslime“

6.2) Kritik an der Nutzung der Begriffe „konservative Muslime“ und „liberale Muslime“ in der deutschen Islamdebatte

Ich halte die Dichotomisierung zwischen (guten) liberalen Muslim*innen hier, und (schlechten) konservativen Muslim*innen dort für eine sehr grobe Vereinfachung, da sie sich im öffentlichen Diskurs seit 9/11 als geradezu unendlich flexibel und missbrauchsanfällig erwiesen hat. Ich schlage daher vor mit diesen Begriffen sehr sparsam umzugehen und ausschließlich auf konkrete Inhalte zu schauen, da diese Begriffe gerade auch in der aktuellen Debatte viele eigentliche Konfliktpunkte nahezu vollständig verschleiern. Beispiel: Wenn die im obigen Abschnitt genannten Punkte (stärkere Rolle von Vernunft, Freiheitlichkeit, Aufklärung, Europazentrierung etc.) als „liberal“ bezeichnet werden, dann wären sehr viele „konservativ“ wirkende Muslim*innen auch als liberal zu bezeichnen. Dann sind diese Punkte zugleich auch kein Spezifikum von Herrn Ourghis eigenem Islamverständnis, sodass es definitorisch mangelhaft wäre Herrn Ourghis Islamverständnis gerade auf diese genannten Punkte zu beziehen.

Entscheidend ist: Was macht Herr Ourghi grundsätzlich anders?

Es ist dabei ebenso ungeschickt den Begriff „konservative Muslim*innen“ als Synonym für religiöse und praktizierende Muslim*innen zu verwenden. Denn dies würde implizieren, dass liberale Muslim*innen nicht religiös und praktizierend sind. Für manche trifft dies sicher zu. Aber dagegen verwehren sich sehr viele andere der sich als liberal bezeichnenden Muslim*innen ausdrücklich. „Liberal“ sollte also nicht als Synonym für „säkular“ im Sinne von „nicht gläubig“, „nicht religiös“ oder „nicht praktizierend“ verwendet werden. (Ein religiös uninteressiertes Mitglied der katholischen Kirche wird auch nicht als „liberaler Katholik“ bezeichnet, sondern evtl. als Nichtreligiöser innerhalb der katholischen Gemeinschaft, der zwar getauft ist, aber ansonsten nicht viel mit dem katholischen Dogma anzufangen weiß.). Sehr wohl kann aber beispielsweise ein gläubiger Muslim für ein säkulares politisches System wie in Deutschland sein.

Wenn ich mein eigenes Islamverständnis in den vorgelegten Begriffen definieren müsste, dann würde ich mich wohl als „konservativen Muslim mit vielen liberalen Ansichten“ bezeichnen,[42] da ich – zumindest im Vergleich mit Autoren wie Herr Ourghi – in vielen Fragen sehr „bewahrend“ (latinisiert: konservativ) bin, und zugleich auf dieser Basis zahlreiche dezidiert freiheitliche und emanzipatorische Positionen entwickelt habe und vertrete. Ich könnte mich einfacher auch als „liberal-konservativen Muslim“, oder vielleicht auch als „freiheitlich-konservativen“ Muslim bezeichnen (am liebsten aber einfach: Muslim).

Dem könnte man beispielsweise ein „autoritär-konservatives Islamverständnis“ als Gegenpol gegenüberstellen, was aber immer noch eine extreme Vereinfachung wäre, da dies manche patriarchalisch geprägte Gastarbeiterfamilien in der säkularen Großstadt ebenso umfassen würde wie die totalitäre Theorie und brutale Praxis des IS. Aber eben genau eine solche begriffliche „Zusammenführung“ verbietet sich unter rationalen und ethischen Gesichtspunkten. Zugleich sind solche „Zusammenführungen“ der Ausgangspunkt weiter Teile der Islamkritik und des Rechtspopulismus.

Auf der anderen Seite kann man auch in verschiedensten Kontexten liberal sein, beispielsweise in politischer, moralischer, ökonomischer und evtl. auch in theologischer Hinsicht. Innerhalb dieser Kontexte wiederum gibt es verschiedenen Ebenen, auf denen man mehr oder weniger liberal sein kann. Und: Liberalität in einem der genannten Kontexte impliziert nicht Liberalität in den anderen Punkten. Es sind also verschiedene Kombinationen und damit auch verschieden Gesamtverständnisse von Liberalität möglich.

Zum Punkt „theologische Liberalität“ ist kritisch anzumerken, dass sich diese Begrifflichkeit zur Umschreibung der komplexen innerislamischen Verhältnisse noch nicht bewährt hat (im Unterschied beispielsweise zur Unterscheidung von entsprechenden Richtungen im Judentum). Denn bei Muslim*innen (und sicher nicht nur bei diesen) gibt es sozial betrachtet ein sehr vielfältiges Spektrum an Lebensweisen und konkreten religiösen Schwerpunkten, das nicht auf wenige Begriffe reduzierbar ist: Viele liberale Ideen werden dort gerade in „konservativen“ Kreisen intensiv gepflegt (z. B. in Fragen der schulischen und akademischen Bildung). Und: Es gibt viele „Liberale“, die sich in bestimmten Dingen als außerordentlich autoritär und undemokratisch erweisen.

Die islamische Theologie als Wissenschaft wiederum ist nach wie vor ein wenig erschlossenes und begrifflich nur unscharf ausgelotetes Gebiet. Darum ist es hier auch nicht hilfreich den Begriffen „konservativ“ und „liberal“ eine hohe Bedeutung beizumessen. Ferner wird die Wirksamkeit islamischer Theologie – gleichgültig, ob „liberal“, oder „konservativ“ – für die konkrete muslimische Lebenswirklichkeit im Hier und Jetzt massiv überschätzt. Muslimischer Habitus verschiedenster Ausprägung entsteht immer noch primär durch Sozialisation, Narrative und praktisches Hineinwachsen, und beispielsweise nicht durch direkte Koranlektüre, oder gar echte Koranauslegung (selbst in den sogenannten Koranschulen geht es meistens nur um kunstvolle Rezitation und Auswendiglernen). Darum ist es vermessen zu glauben, es sei sinnvoll Muslim*innen nach der von ihnen vertretenen Koranhermeneutik o. ä. zu unterscheiden, statt nach den differenzierten Gegebenheiten ihrer konkreten Milieus des Aufwachsens und ihrer individuellen Signatur. Entsprechend ist es grotesk (und intellektuell unredlich) Integrationsprobleme oder beispielsweise die Terrorthematik anhand von rhapsodisch ausgewählten Koranversen oder Hadithen analysieren zu wollen, deren Präsenz im muslimischen Bewusstsein oft gar nicht gegeben ist. Herr Ourghi tut aber genau dies sehr oft, leider ganz im Stil pauschaler Muslimverachter, die genauso argumentieren. Ich werde im nächsten Abschnitt einige Beispiele dafür geben.

Zurück zum Thema: Aktuell wird in der Islamdebatte nicht nur extrem vereinfacht, sondern es werden auch Begriffe extrem inkonsistent verwendet. Beispielsweise werden theologisch wirkende Bezeichnungen wie „liberaler Muslim“ zumindest in der medialen Debatte weiterhin manchmal sowohl für Islamgegner*innen mit Migrationshintergrund, als auch für sehr gläubige Musliminnen ohne Kopftuch, als auch für umfänglich praktizierende Muslime, die aber öffentlich radikal-islamische Gruppen kritisieren, verwendet. Diese Inkonsistenz spiegelt sich in entsprechend inkonsistenten und verwirrenden Sprechweisen des Durchschnittsbürgers wider: eine Verunsicherung für alle. Die sozialen Realitäten hingegen sind (wen wundert das) viel komplexer. So kenne ich zahlreiche Muslim*innen mit Kopftuch mit als sehr liberal geltenden Auffassungen. Die Theologin Rabeya Müller wiederum ist nicht nur Kopftuchträgerin, sondern gehört auch zu den prominenten Muslim*innen, die sich ausdrücklich als liberal bezeichnen und entsprechende Positionen offen vertreten (man kontrastiere dies zur weiter oben genannten Nicht-Kopftuchträgerin, die aber ansonsten traditionell gläubig und religiös ist).

Bestürzend ist für mich ferner, dass die Islamdebatte als Kriterium für die Verleihung des Titels „liberaler Muslim“ vor allem eines abzufordern scheint, nämlich eine Distanzierung von „konservativen Muslimen“ (ohne nähere Definition), von traditionellen Islamverbänden (ohne irgendeine innere Differenzierung), dem „Moschee-Islam“ etc.

Noch entschiedener wird die „Liberalität“ attestiert, wenn „liberale Muslime“ die besagten anderen Gruppen öffentlich verurteilen oder pauschal denunzieren. Ich meine, dass genau dies der Hauptfaktor ist, der Herrn Ourghi laut Mediendarstellungen zu einer „prominenten Stimme des liberalen Islam“[43] gemacht hat, und nicht die islamwissenschaftliche Stichhaltigkeit seines Theoriegebäudes. Dabei ist eine „Negation“ des Konservativen noch keine Liberalität: Die neuere Geschichte kennt etliche Beispiele für autoritäre und totalitäre Revisionisten verschiedenster Art. Diese sind nicht-konservativer, aber zugleich noch weniger liberal.

Man bedenke dabei auch, dass viele andere als liberal geltende Muslim*innen (die den „Konservativen“ gegenüber einen weit weniger scharfen Ton anschlagen) mit ihm nicht in einem Atemzug genannt werden wollen und es in den letzten Jahren mehrmals heftige Zerwürfnisse zwischen Liberalen gab, nicht selten auch mit Herrn Ourghi.

Um ein Beispiel dafür zu geben, wie Herr Ourghi von anderen sich als liberal bezeichnenden Muslim*innen empfunden wird, zitiere ich hier einen längeren Abschnitt aus einer Presseerklärung des Liberal-islamischen Bundes, durch den der Begriff „liberaler Muslim“ in Deutschland erst besondere Popularität erreicht hatte.

In der besagten Presseerklärung anlässlich einer Initiative von 2016 heißt es zu Herrn Ourghi:

„Der Liberal-Islamische Bund e.V. (LIB) stellt klar, dass der LIB als Organisation nicht zu den Trägern der von Abdel-Hakim Ourghi ins Leben gerufenen „Freiburger Deklaration“ gehört. 

Wir halten diese Klarstellung indes für notwendig, da in dem Dokument mehrfach die Rede von „liberal-islamische Ideen“, „liberalen MuslimInnen“ sowie von „liberalen Islam“ ist. Das in dem Dokument postulierte Verständnis dieser Begriffe ist jedoch nicht mit unseren Verständnis davon in jedem Punkt identisch. 

Der Liberal-Islamische Bund e.V. wurde 2010 unter dem Vorsitz von Lamya Kaddor gegründet, um Musliminnen und Muslimen, die einen vernunftorientierten Zugang zum Glauben suchen, ohne an spiritueller Substanz zu verlieren, eine Stimme zu verleihen. Dies bedeutete immer, nicht nur in den Dialog mit der andersgläubigen Mehrheit zu treten, sondern vor allem auch – trotz inhaltlicher Differenzen – den innerislamischen Kontakt zu suchen.

Bei einigen anderen Punkten jedoch nehmen wir in Anspruch, eine weitaus differenziertere Position zu vertreten. Dass der Initiator selbst, Herr Ourghi, in letzter Zeit rassistischen und islamfeindlichen Diskursen in Deutschland Schützenhilfe leistet, lässt sein Anliegen rund um die „Freiburger Erklärung“ verblassen. Vor dem gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Ereignissen in den letzten Monaten und Jahren ist eine verantwortungsvolle, sachliche und vermittelnde Position derzeit unablässig. 

Selbstverständlich ist es einzelnen prominenten Mitgliedern des LIB überlassen, diese Initiative als Privatperson zu unterstützen. Wir als Liberal-Islamischer Bund e.V. unterzeichnen diese Erklärung nicht, da ein „liberaler Islam“ da aufhört liberal zu sein, wo er sich marginalisierenden Diskursen der Mehrheitsgesellschaft unreflektiert anschließt.“[44]

(Zur Präzisierung: Ich selbst gehöre nicht dem Liberal-islamischen Bund an. Ich bezeichne mich nicht als „liberalen Muslim“. Ich finde es generell problematisch das Label „liberal“ zu verwenden, außer vielleicht in der Konstellation „liberal-konservativ“, oder punktuell als Komparativ in Einzelfragen. Ich finde, man muss es den Vereinfachern in manchen Medien so schwer wie nur irgendwie möglich machen gerade an den entscheidenden Stellen unzulässige Vereinfachungen vorzunehmen, denn sie verwirren damit große Teile der Öffentlichkeit. Ich verurteile nicht die Selbstbezeichnung „liberaler Muslim“, sondern ihre politische Instrumentalisierung, die fast immer auf Kosten der „anderen“ Muslime geht und für Abwertungskonstruktionen instrumentalisiert wird. Kurzum: Ich finde es liberaler im Kontext der Islamdebatte auf den Begriff „liberal“ zu verzichten.)

Dieses Positionspaper macht auf mich insbesondere deshalb einen liberaleren Eindruck als viele Statements von Herrn Ourghi, da hier die Existenz von „marginalisierenden Diskursen der Mehrheitsgesellschaft“ eingestanden und diese als problematisch dargestellt werden (was sie aus liberaler und menschenrechtlicher Perspektive auch sind). Solche Marginalisierungsdiskurse werden von Herrn Ourghi jedoch nicht nur fast nie kritisiert, sondern fast immer mit Entschiedenheit unterstützt. Und genau das ist eines der entscheidenden Probleme, die auch ich – und nicht nur ich – mit Herrn Ourghi habe. Dies soll im nächsten Kapitel anhand einiger Beispiele veranschaulicht werden.

6.3) Kritik an Herr Ourghis Beiträgen zur deutschsprachigen Integrationsdebatte

Wichtig erscheint mir in der obigen Presseerklärung auch der Vorwurf, dass Herr Ourghi „rassistischen und islamfeindlichen Diskursen in Deutschland Schützenhilfe leistet“. Das möchte ich hier etwas vertiefen. Wenn ich Herr Ourghis Texte und Verlautbarungen unter einem diskursanalytischen Blickwinkel betrachte, dann komme ich zu einem ähnlichen Ergebnis. Ourghi ist ein Name, der immer wieder in islamfeindlichen und rechtspopulistischen Diskursen als Bestätigung der dortigen pauschalen Abwertung und Verurteilung muslimischer Milieus verwendet wird, wobei sein Wort – als Islamkritiker mit Migrationshintergrund – als glasklarer Beweis gewertet wird.[45] Muslim*innen als Täter tauchen bei ihm oft auf. Muslim*innen als Opfer, nach meinem Eindruck, erwähnt er jedoch selten bis nie – und wenn, dann sind es muslimischer Reformer oder andere Muslim*innen, die Opfer muslimischer Konservativer wurden. Nie fand ich bisher Herrn Ourghi jedoch in einem Kontext erwähnt, in dem er beispielsweise auch die Diskriminierung von Muslim*innen in mehrheitlich nicht muslimischen Gesellschaften anprangert – vielleicht habe ich es übersehen –, oder in dem er sich beispielsweise mit der Rolle von Kolonialismus und Imperialismus bei der Entstehung reaktionärer und islamistischer Strömungen befasst, obwohl dies längst etablierte Themen in verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen sind.

Vieles ist bei ihm schlichtweg schwarz-weiß – und damit sicher auch eine Reaktion auf das verbreite Schwarz-weiß-Denken in manchen muslimischen Milieus, die er als konservativ bezeichnet. Was jedoch von jemanden, der Muslim*innen zur Reform verhelfen möchte, mindestens zu erwarten wäre, ist eine faire und ausgewogene Thematisierung von beiden Schattenseiten der muslimischen Moderne, in der es sowohl muslimische Täter als auch muslimische Opfer[46] gibt, und in der die westliche Welt nicht nur die Rolle des Aufklärers und Menschenrechtlers hat, an die dessen Kultur der Islam ohne jede weitere Differenzierung angepasst werden müsse,[47] sondern auch problematische Rollen wie etwa in den Phänomenen Imperialismus, Kolonialismus, (europäischer) Antisemitismus und Antiziganismus, Rassismus und Faschismus. Diese Schattenseiten der westlichen Moderne differenziert zu thematisieren, ist im „westlichen“ Diskurs nie ein Tabu-Thema gewesen. Warum müssen dann diese Elemente von Herrn Ourghi konsequent ausgespart werden, während er bei seiner Analyse der Situation der gegenwärtigen Muslim*innen und ihrem Verhältnis zur Moderne andererseits nichts aus der früheren und zeitgenössischen islamischen Geschichte an Gräueltaten, Menschenrechtsvergehen als Argument auslässt und dabei auch vor grotesken Pauschalisierungen zum Islam nicht scheut?

Dabei ist doch nichts ist nur gut, oder nur schlecht. Und Wissenschaftlichkeit endet definitiv dort, wo nur solche Thesen (zudem auf fraglicher Grundlage) propagiert werden, die offensichtlich vor allem gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Herabsetzung Vorschub leisten. Man kann bei Herrn Ourghi im Kontext seines Ansehens bei den Rechtspopulisten daher auch nur bedingt „Applaus aus dem falschen Eck“ attestieren: Es sind die pauschalen und teils menschenverachtenden Thesen und Forderungen mancher Islamkritiker und Rechtspopulisten, die hier von einem muslimischen mutmaßlichen Kronzeugen mit Migrationshintergrund aus anderer Perspektive wiederholt und legitimiert werden. Selbst die Schließung der Stiftung, die Ourghi fordert, wird meines Wissens von allen Parteien in Baden Württemberg in so einer kategorischen Form ausschließlich von der AfD gefordert.[48]

Wie bizarr die politische Seite von Herrn Ourghis Wirken ist, zeigen folgende zwei konkrete Beispiele:

6.3.1) Herr Ourghis Aussagen zu den sexuellen Übergriffe in der Kölner Silversternacht

Zu den sexuellen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht zum Jahr 2016 liefert Herr Ourghi ein Paradebeispiel für Pauschalisierung mit politisch polarisierender Pointe: „Fest steht, dass die Täter aus der muslimischen Minderheitsgesellschaft stammen und die Opfer wehrlose Frauen aus der Mehrheitsgesellschaft sind. Diese komplett neue Dimension sexueller Gewalt und organisierter Kriminalität ist eine große Herausforderung für den Umgang nicht nur mit der Integration der neu angekommen Flüchtlinge, sondern auch mit ihrer islamischen Religionszugehörigkeit.“[49] Statt die Herkunftsmilieus der Täter, die wohl zu relevanten Anteilen tatsächlich Flüchtlinge waren, genauer unter die Lupe zu nehmen, besteht Herr Ourghi darauf in Koran und Sunna nach den eigentlichen tiefer liegenden Ursachen dieses Verhaltens zu suchen und verzichtet dabei nicht nur auf jegliche soziologisch naheliegenden Zweifel an dem von ihm implizierten Ursache-Wirkungs-Mechanismus, sondern er übergeht auch auf den differenzierten Umgang in der islamischen Literatur mit den von ihm zitierten religiösen Primärquellen. Was ich besonders verstörend finde, ist, dass die Betrunkenheit vieler Täter an dem Abend,[50] die eindeutig gegen eine Verwurzelung der Täter in „Koran und Sunna“ spricht, von Herrn Ourghi verschwiegen wird. Die Lösung bestünde aus meiner Sicht darin die beteiligten (muslimisch geprägten) Milieus der Täter näher zu untersuchen, natürlich auch mit Blick auf die Frage, ob eventuell religiöse Überzeugungen eine Rolle gespielt haben, oder nicht. Wichtig ist, wie in allen derartigen Fällen: Die absolute Mehrheit der Muslime einschließlich der Flüchtlinge verurteilt derartige Taten und hätten nie so gehandelt. Warum kann Herr Ourghi dies nicht zur Kontextualisierung und zur Vorbeugung einer zunehmenden Verachtung von Muslim*innen durch die Leser*innen erwähnen?

Es muss in solchen Fällen zwischen Milieus unterschieden werden – das ist das minimale Gebot eines jeden pädagogisch und soziologisch geschulten Verstandes. Herr Ourghi besteht aber darauf bei der Ursachenbestimmung Koran und Sunna in das Zentrum zu stellen. Mit diesem Vorgehen stellt er aber alle Muslime unter Generalverdacht, also vor allem auch jene, die gerade auf Basis von „Koran und Sunna“ (oder auch einfach so) keine Frauen sexuell belästigen (schon gar nicht im betrunkenen Zustand). Es gibt keinen einzigen Tatbestand auf der Welt, an dem aus muslimischen Familien stammende Menschen beteiligt sind, aus dem man mit Herrn Ourghis Methode der Dämonisierung nicht reichlich Islamkritik mit vielen Zitaten aus „Koran und Sunna“ motivieren könnte. Eine echte theologische Auflösung findet dabei jedoch nicht statt, wobei doch genau dies die (von anderen Personen schon vielfach erbrachte) Arbeit eines Theologen wäre (siehe unten). Zu hören ist bei ihm vielmehr die Aufforderung, dass Muslime endlich ihre Religion kritisieren sollen (als ob nicht schon etliche kritische Selbstreflexionen zu den besagten Problemen im Gange wären)  – statt sie zu soziologischem und hermeneutischem Blick anzuregen. Ist dies wirklich ein sachdienlicher und psychologisch aussichtsreicher Ansatz, um tatsächlich existierende Missstände zu analysieren, zu lokalisieren und zu lösen? Geht es Herrn Ourghi bei solchen Statements primär darum die Muslim*innen zu erreichen, oder die nicht muslimischen Islamkritiker*innen und Islamskeptiker*innen? Der Wortlaut seiner Aussagen legt nach meinem Eindruck eher leider letzteres Nahe. (Dies bedeutet natürlich nicht, dass er deswegen automatisch auch im Rahmen seiner IRU-Lehrveranstaltungen so einseitig argumentiert.)

Als ob dies alles nicht schon problematisch genug wäre, erhielt Herr Ourghi noch die Möglichkeit im Nachtmagazin der Tagesschau vor einem sehr breiten Publikum genau für diese „islamisierende“ Lesart der sexuellen Übergriffe zu werben – und musste dabei gegen die skeptischen Rückfragen des Moderators argumentieren,[51] für den Herr Ourghis Darstellungen zu pauschal wirkten und Stereotype zu bedienen schienen. [52] Herr Ourghi zitierte darauf ohne jede Differenzierung einen Bericht  aus der „Tradition des Propheten“, (die zwar nicht zur Frage des Moderators passte, aber ein hinreichend negatives Frauenbild transportiert) – also genau aus jener Tradition, die er an anderer Stelle als eine zweihundert Jahre nach dem Propheten aufgekommene ideologische Erfindung beschreibt („40 Thesen. Reform des Islams.“, München 2017, These 18). Die Zuschauer*innen können den immanenten Widerspruch natürlich nicht erkennen: Im Fernsehauftritt macht er unmittelbar die „Tradition des Propheten“ für das vorgeblich negative Frauenbild der Muslim*innen und der sexuellen Belästiger der Kölner Silvesternacht verantwortlich. Dem unbefangenen Leser erschließt sich damit der Eindruck, dass der Prophet selbst die Ursache heutiger Probleme ist – und genau dies ist ein Spezifikum islamkritischer Rhetorik. In seinem Buch „40 Thesen“ hingegen stellt er diese „Tradition der Propheten“ sogar in ihrer Gesamtheit als nicht dem Propheten Muhammad zugehörige und Jahrhunderte nach ihm aufgekommenen Erfindung dar, was eher zu den zeitgenössischen Reformansätze innerhalb des Islams passt (oder wahlweise zu einer u. a. durch die Studien der Isnad-cum-Matn-Methode relativierten Sichtweise innerhalb der älteren Orientalistik). In diesem Falle wäre nicht der Prophet der Adressat der Kritik.

Natürlich kann ich mir die möglicherweise verborgenen logischen Zusammenhänge hinter Herr Ourghis Texten und das „eigentlich Gemeinte“ mit viel gutem Willen und etwas Fantasie auch selbst zusammenreimen (was nicht heißt, dass ich sie dadurch schon für wahr oder fundiert halten würde). Aber ich bin der Meinung, dass diese Präzisierung des Gesagten der Sagende schon selbst leisten muss, und zwar in jedem Text und bei jeder Rede aufs Neue. Dies gilt vor allen dann, wenn man regelmäßig von islamfeindlichen Rechtspopulisten als Kronzeuge zitiert wird. Man muss sich entscheiden: Will ich den Propheten für seine „Tradition“ angreifen? Oder will ich jene, von denen ich behaupte, dass sie diese Tradition zweihundert Jahre nach ihm erfunden hätten angreifen? „Tradition des Propheten“ und „Jahrhunderte später erfundene angebliche Prophetentradition“ sind zwei sich definitorisch ausschließende Dinge. Dieses situationsabhänge Hin- und Herspringen von Herr Ourghis Rhetorik beim selben inhaltlichen Thema zwischen einer absoluten Islamkritik, die den Koran und den Propheten direkt verurteilt, und einem radikalen Islamreformismus, der die gesamte tradierte islamische Theologie durch bereinigte modernistische Neuschöpfungen ersetzt, ist einer der markantesten und soweit ich sehe bisher kaum thematisierten Besonderheiten in seinem Werk. Wenn ich also Herr Ourghis Thesen gar nicht kohärent kritisieren kann, weil sie nicht kohärent und präzise formulierbar sind, dann bleibt mir nur noch zu prüfen, welche Wirkungen seine Auftritte haben, da dann offensichtlich dies den eigentlichen Kern seiner Popularität ausmacht. (Diese ist auch der Grund, warum ich das Unterkapitel zu Herrn Ourghis Beiträgen zur Integrationsdebatte vor das Unterkapitel zu seiner Theologie gestellt habe).

Das eigentliche Problem aus meiner Sicht ist dabei gar nicht Herr Ourghis von mir vermutete stellenweise Inkohärenz an sich, oder seine einzelnen Meinungen, über die man ja diskutieren kann, sondern dass diese punktuell herausgegriffenen Meinungen medial verstärkt als eine besonders gut fundierte Meinungen verbreitet und entsprechend oft rezipiert werden: Denn er wird dort vorgestellt als „Islamischer Theologie von der Pädagogischen Hochschule Freiburg“. Wenn selbst ein islamischer Theologe von der Pädagogischen Hochschule Freiburg „Der Islam ist das Problem“ sagt, warum sollte dann die deutsche Gesellschaft sich noch die Mühe machen und mühsam differenzieren, wenn es um Muslime geht?

Interessant ist, dass Herr Ourghi zur Lösung des damals aufgeschlagenen Problems der Silvesternacht am Ende des Gesprächs im Fernsehen dazu rät, dass generell das Erlernen der deutschen Sprache eine wichtige Präventionsmaßnahme wäre um eine schnellere Integration zu ermöglichen. Ich finde, das ist ein guter erster Ansatz. Aber wozu dann erst die breite Thematisierung von „Koran und Sunna“ und deren Beschuldigung, wenn es bei konkreten Praxisansätzen dann doch um Sprache und Bildung geht?

6.3.2) Herr Ourghis Aussagen zum muslimisch geprägten Antisemitismus

Mein zweites Beispiel kreist um das Thema Antisemitismus: Ganz im Stil der pauschalen Islamkritik vertritt Herr Ourghi in einem Artikel, dessen Titel „Muslime werden dazu erzogen, Juden zu hassen“ lautet, die These: „Der Koran bildet gewissermaßen die Tiefenschicht des Antisemitismus islamischer Prägung.“[53] Damit ist klar: Der Islam ist das Problem. Und nur Herr Ourghis Islamkritik ist in der Lage dies zu benennen und zu beheben – als ob es hierzu nicht seit langem schon einen breiten wissenschaftlichen Diskurs gäbe, der das Phänomen des Antisemitismus bei manchen Muslim*innen auch benennt, aber dieses differenzierter zu analysieren und zu kontextualisieren vermag. Es war in diesem Fall der Islamwissenschaftler Michael Kiefer, der nach Herr Ourghis schockierendem Artikel in derselben Zeitung kurze Zeit später eine differenziertere Sichtweise darstellte. Sein Artikel trägt den Titel: „Der Islam ist nicht pauschal antisemitisch“.[54] Darin holt Herr Kiefer genau das nach, was Herr Ourghi (wie ich finde: absichtlich) versäumt, nämlich eine differenzierte und in mehrere Richtungen hin vertiefende Darstellung der Verhältnisse in der Problematik. Herr Kiefers Urteil zu Herrn Ourghis Argumentationsweise ist vernichtend:

So verfahren die Islamisten, die behaupten, jede Aussage des Koran müsse wörtlich genommen werden und sei allzeit gültig. Die meisten muslimischen Gelehrten lehnen einen derartigen Umgang mit dem Koran ab. Dies ist durch eine reichhaltige exegetische Literatur belegt. Wer seriös argumentiert, muss dies erwähnen.“[55]

Ich persönlich finde es peinlich, dass die offensichtlich kalkulierten antimuslimischen Pauschalisierungen des „islamischen Theologen und Religionspädagogen“ von nichtmuslimischen Fachexperten korrigiert und differenziert werden müssen. In jedem Fall gilt: Auf der Basis von Herrn Ourghis Analysemethode kann außer einer Verstärkung von Rechtspopulismus und Islamfeindlichkeit einerseits („Schaut, der islamische Professor hat herausgefunden, dass das alles vom Islam kommt.“), und einer Verstärkung von muslimischem Misstrauen gegenüber „Reformern“ nichts erreicht werden. Das ist sehr schade – denn die angesprochenen Probleme gibt es in manchen muslimisch geprägten Milieus wirklich, genauso wie es problematische Islamdeutungen und ein immer noch nicht aufgearbeitetes, aber stellenweise überarbeitungsbedürftiges theologisches Erbe gibt. Aber milieuspezifische Probleme unvermittelt mit wahllos aneinandergereihten Texten aus „Koran und Sunna“ erklären zu wollen, ohne Blick auf deren konkrete Rezeption in den besagten Milieus und ohne Blick auf konkrete Sozialisationsfaktoren – dies ist mit Sicherheit kein wissenschaftlicher, und erst recht kein humanistischer oder liberaler Ansatz.

Herr Ourghi setzt diesen Kurs der pauschalen Verallgemeinerung von Antisemitismus unter Muslimen derweil fort.[56] Für Dezember 2021 ist nun auch ein Buch von ihm zum Thema „Juden im Koran“ angekündigt. Ich bin gespannt darauf, ob uns inhaltliche Überraschungen erwarten, die auf Differenzierung, islamwissenschaftliche Tiefe und vor allem: realistischen Problemlösungsansätze abzielt, die ohne eine Dämonisierung von „konservativen Muslimen“ auskommt. (Meine Prognose: nein!)

6.3.3) Zusammenfassung

Mit Herrn Ourghis Ansätzen zur Analyse von Problemen wie Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus unter Muslim*innen wird verschiedentlich Populismus betrieben und es werden antimuslimische Ressentiments geschürt. Aber mit diesen pauschalen und kollektiv demütigenden Verfahrensweisen werden die Probleme nicht wirklich durchschaut und erst recht nicht gelöst. Auch kann man damit zwar viel „Islamkritik“ motivieren. Aber man kann damit Menschen, die sich eine muslimische Identität zuschreiben, kaum dazu gewinnen kulturelle oder religiöse Selbstkritik zu betreiben – weder als Individuen, noch als Kollektiv, weder als Erwachsene und schon gar nicht als Jugendliche. Insbesondere kann man sich damit zu einer populären Stimme der Islamkritik machen, nicht jedoch zu einem Sprecher der Muslim*innen und schon gar nicht zu einem glaubwürdigen Islamreformer.

Selbstkritik darf durchaus öffentlich und schonungslos sein. Nur sollte man vermeiden das Gros der Muslim*innen auf seine eigene evtl. biografisch bedingte Selbstkritik verpflichten zu wollen. Auch sollte man vermeiden jene zu verurteilen, die Selbstkritik in der Form von Herrn Ourghi ablehnen, weil sie glauben bessere Formen der kritischen Analyse gefunden haben. Bei all dem ist es wichtig festzuhalten, dass Herr Ourghi selbst es ist, der seine Thesen und Forderungen (vor allem in der Öffentlichkeit) stets so formuliert, dass rechtspopulistische und islamkritische Diskurse unmittelbar an ihn anknüpfen können. Ich denke nicht, dass dies ein Versehen ist. Vielmehr ist dies genau die Folge, wenn man Denkkategorien der populären Islamkritik vorbei an jeglicher Sozialwissenschaft und fundierter Theologie als natürlichen Ausgangspunkt einer gerade noch legitimen islamischen Identität anerkannt hat. Ich lehne die Erklärungs- und Wahrheitsansprüche des Ansatzes von Herrn Ourghi ab. Ich anerkenne ihn jedoch als legitime Stimme in der öffentlichen Islamdebatte. Ob dieser Ansatz in irgendeiner Form für innerislamische Diskurse oder gar für islamische Religionspädagogik fruchtbar gemacht werden kann, mögen die Leser*innen beurteilen.

6.4) Eine kritische Rezension zu Herr Ourghis 40 Thesen zur Reform des Islams

Ich möchte hier abschließend einige Beispiele für Herr Ourghis theologische Positionen geben, die es aus meiner Sicht sehr schwer machen in Herrn Ourghis Ansatz ein ausgereiftes Reformpotenzial für den zeitgenössischen Islam zu erkennen, mit dem er sich von den vielen bereits bestehenden Vorschlägen in irgendeiner Hinsicht positiv abheben würde. Positionen wie die folgenden sind meiner Meinung nach keinesfalls repräsentativ für die Mehrheit der progressiven und, wenn man so will, liberalen Bemühungen innerhalb der islamischen Theologie, die es seit nunmehr über 200 Jahren schon gibt. Ich konzentriere mich im Folgenden ausschließlich auf das Buch „Reform der Islam. 40 Thesen.“ (München, 2017) von Herrn Ourghi, da es die inhaltlich dichteste Stellungnahme von Herrn Ourghi zu seinem Islamzugang darstellt. Ferner werde ich hier wieder primär nicht die Punkte meiner Zustimmung (die ich natürlich auch habe), sondern meine Einwände wiedergeben, da es mir darum geht entgegen dem medialen Tenor zu zeigen, warum bei weitem nicht nur „konservative Muslim*innen“  berechtigte Schwierigkeiten mit Herrn Ourghis Ansatz haben. Eine umfassendere Rezension zum Buch werde ich vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt zu schreiben.

1) Herr Ourghi vertritt in seinem Buch „Reform des Islam“ die Sichtweise: „Das richtige Glaubensbekenntnis des Islam lautet: Ich bezeuge es gibt keinen Gott außer Allah“ (These 14, S. 105)“ Den bei Sunniten üblichen zweiten Teil „Und ich bezeuge, dass Muhammad sein Gesandter ist“ sieht er als spätere Hinzufügung an, was im Rahmen der Genese der Tradition wissenschaftlich durchaus diskutierbar ist. Doch der eigentlich brisante Punkt ist folgendes Urteil: „Und der Versuch einen zweiten oder dritten Teil hinzuzufügen ist nichts anderes als Polytheismus.“ (S. 109). Demnach wären also alle Muslime, also insbesondere auch die Sunniten und Schiiten, schlichtweg Polytheisten, also Verehrer mehrerer Götter, sobald sie das Glaubensbekenntnis so formulieren, wie es seit jeher als 1. Säule des Islams formuliert ist, nämlich als Bekenntnis zum einen Gott und zu Muhammad als seinem Gesandten. Das steht weit außerhalb der traditionellen und der meisten progressiven Sichtweisen im Islam. (Zur Präzisierung: Herr Ourghi lehnt hier nicht den Glauben an die Prophetenschaft des Propheten Muhammad generell ab (S. 108), sondern behauptet, dass eine Hinzunahme dieses Glaubens in das Glaubensbekenntnis des Islams Polytheismus sei).

2) Ferner vertritt Herr Ourghi die These, dass sich die Botschaft des Islams nur an die Araber wenden würde. Seine 13. These lautet: „Der Islam ist keine universale Religion, denn der Koran ist eine an die Araber adressierte Religionsschrift.“ (S. 91) Der Islam sei wohl eine  „ethnisch eingegrenzte Offenbarung […], welche nicht an die gesamte Menschheit gerichtet ist und somit auch nicht mit anderen Religionen konkurrieren will.“ (S. 104) Aus seiner Lesart des Korans leitet er ab: „… dass Muhammad und Mose als Gesandte ihrer jeweiligen Völker betrachtet werden können. Gewiss steckt dahinter der Gedanke, dass die Universalität der beiden Religionen nicht festgelegt ist, denn die Zuhörerschaft ist deutlich in ihrer kulturellen, ethnischen und regionalen Umgebung eingegrenzt.“ (S. 104) Bei Annahme dieser These folgt meiner Meinung nach logisch zwingend, dass es absurd wäre als Nicht-Araber zu versuchen im Islam eine religiöse Wegweisung zu suchen: Denn Islam und Judentum richten sich laut Herrn Ourghi an je ein Volk (Araber bzw. Juden) (vgl. ebd.) und konkurrieren deswegen eigentlich auch gar nicht z. B. mit dem universellen Christentum. Damit wird die muslimische Religionstradition als schlichtes Missverständnis deklariert: Die Völker, die den Islam annahmen, und damit auch die Ahnen der Mehrheit der Muslime in Deutschland, unterlagen demnach dem Missverständnis, dass sie den Islam für ebenso universell hielten wie das Christentum. Dann wiederum würde sich die Frage stellen, ob die von Herrn Ourghi betriebene Reformbemühung überhaupt kohärent haltbar ist, wenn doch die meisten Muslim*innen Nichtaraber, und somit eigentlich auch gar keine Adressaten des Islams sind: Statt 40 Thesen, hätte diese eine These also gereicht.

3) Bei Herrn Ourghi wechseln sich differenzierte und vernünftige Reformvorschläge mit sehr pauschalen Negativurteilen, wie man sie eher aus der radikalen Islamkritik kennt, ab. So schreibt er etwa in seiner These 20: „Der Islam hat ein gestörtes Verhältnis zur Reflexion“ (S. 133). In These 33 heißt es: „Der Islam hat die Frauen nicht zu freien Menschen gemacht, sondern zu Knechten der Männer.“ (S. 189) Einer solchen Pauschalität begegnet man ansonsten nur bei erklärten Islamgegnern. Für die politischen, akademischen und religionspädagogischen Diskurse zum Islam mit einem gewissen Anspruch sind sie in jedem Fall unbrauchbar.

4) Trotz der wiederholten Erwähnung der historisch-kritischen Methode bleiben im vollen Wortsinn historisch-kritische Studien, die die islamischen Quellen in ihrer Genese und Evolution untersuchen, weitgehend unberücksichtigt. So gibt Herr Ourghi beispielsweise den erst in der Sira-Literatur des frühen 2. Jahrhunderts des Islams schriftlich nachweisbaren Bericht über die kollektive Hinrichtung der Männer des jüdischen Stammes der Banu Qurayza auf Billigung des Propheten Muhammad, aber auch etliche andere Berichte etwa über die Vertreibung der Banū Qaynuqāʿ völlig unkritisch wie einen historischen Augenzeugenbericht wieder (S. 208-209). Dabei wurden die zugrunde gelegten Texte schon in den 90ern in einer beachtlichen Studie des Islamwissenschaftlers Marco Schöller historisch-kritisch untersucht und auf die immense Entwicklungsdynamik und auf zahlreiche spätere Erscheinungen im frühen Überlieferungsmaterial hingewiesen (Exegetisches Denken und Prophetenbiografie – Eine quellenkritische Analyse der Sīra-Überlieferung zu Muḥammads Konflikt mit den Juden, Wiesbaden 1998).[57] Dass Herr Ourghi diese Berichte nun wie in der Islamkritik üblich im Indikativ als Faktum wiedergibt, wäre verzeihlich, wenn er nicht beanspruchen würde die islamischen Quellen historisch-kritisch zu untersuchen – aber genau dies behauptet er, so wie die meisten populären Islamkritiker. Gänzlich inkohärent wird die Situation, wenn Herr Ourghi an anderer Stelle (wie schon erwähnt) die gesamte prophetische Überlieferung als eine Erfindung bezeichnet (These 18; siehe auch die Diskussion im vorigen Unterkapitel), die zweihundert Jahre nach dem Ableben des Propheten aufkam, während er die damit eng verwandten Berichte zu den Juden wie historische Fakten behandelt. Es bleibt abzuwarten, ob er in seinem angekündigten Buch „Die Juden im Koran“ an irgendeiner Stelle wirklich historisch-kritisch vorgehen wird, was ich sehr begrüßen würde, oder ob er sich bei der Analyse des Konflikts des Propheten mit den Juden von Medina mit einem naiven Literalismus der Quellen (die er eigentlich als Erfindung ablehnt) begnügen wird. Denn eines hat sich in der Islamkritik noch nicht überall herumgesprochen: „islamkritisch“ und „historisch-kritisch“ sind zwei verschiedene Dinge. Islamkritik kann historisch-kritisch sein. Jedoch ist die historisch-kritische Methode für eine pauschale Islamkritik eher hinderlich als nützlich. Und sie ist wesentlich anspruchsvoller, als es populistische Islamkritik nahelegt. Vielleicht taucht sie deswegen dort eher nur als Slogan auf (und zur Abgrenzung von „konservativen Muslimen“) und meint einfach nur, dass der Prophet für ein Verhalten kritisiert werden soll, das spätere und fragliche Quellen ihm zuschreiben und das aus pragmatischen Gründen nun (historisch-unkritisch) als Faktum behandelt und kontextfrei nach modernsten Maßstäben kritisiert werden soll. Dies ist jedoch eher das Gegenteil historisch-kritischer Methode. Und mit Aufklärung, hat dies auch erstaunlich wenig zu tun.

5) Herr Ourghis Koranhermeneutik ist sehr ungenau und vage. Hierzu nur ein Beispiel: Zum einen fordert er beispielweise zu den Kriegspassagen im Koran: “Zweifelsohne bieten solche Koranpassagen jede Menge Anknüpfungspunkte für die heutige Gewalt im Islam… Die zwischen 622 und 632 verkündeten Koranpassagen müssen in ihrem historischen Kontext verstanden werden. Viele unter ihnen haben als historisch-politische Äußerungen nur eine temporäre Gültigkeit für das 7. Jahrhundert…“ (S. 215). Soweit ist die Aussage gut verständlich. Eine Seite weiter erklärt er jedoch, dass genau dieses historisch-kotextualisierende Vorgehen aber nicht ausreichend sei: „Es reicht nicht aus, die Offenbarung des Korans in ihrer historischen Entstehungssituation zu verstehen. Darüber hinaus muss auch eine Methode entwickelt werden, welche den Islam auf der Grundlage einer kritischen Reflexion von der Macht dieser umstrittenen Koranverse befreit“ (S. 216). Wie das genau aussehen soll, und warum überhaupt noch eine Notwendigkeit für weitergehende Methoden besteht soll um „den Islam… von der Macht dieser umstrittenen Koranverse“ zu befreien, nachdem die problematisch wirkenden Aussagen doch offensichtlich historisch kontextualisiert und somit de facto „entmachtet“ sind, bleibt aus meiner Sicht offen. Entweder wurde also gar nicht historisch kontextualisiert, oder: „historische Kontextualisierung“ stellt die Ansprüche einer Islamkritik, die auf eine plakative Verurteilung islamischer Primärtexte statt „nur“ auf ihre Kontextualisierung abzielt, nicht ausreichend zufrieden.

6) Herr Ourghis Semantik und Arithmetik zum „Islam“ ist verwirrend. Ein Bespiel hierfür: Herr Ourghi plädiert dafür vom Islam nicht im Singular, sondern nur im Plural zu sprechen. Dies begründet er so:

„Der Islam in den westlichen Ländern ist nicht nur der sunnitische Islam…, sondern besteht aus einer Vielfalt verschiedener Glaubensgemeinschaften. Andere muslimische Konfessionen… gehören ebenfalls zur kulturellen Identität des europäischen Islam. Also sollte man auch in der Islamischen Theologie von der Vorstellung Abschied nehmen, dass es nur „einen“ Islam gibt. Allein die vier sunnitischen Rechtsschulen, ferner die unterschiedlichen muslimischen Glaubensgemeinschaften sind der deutliche Beweis dafür, dass man heute vom Islam in der Pluralform sprechen muss.“ (These 5, S. 59-60)

Soweit, so gut. Gegen Ende des Buches verkündet er jedoch das genaue Gegenteil dieser pluralistischen Sicht: Es gäbe nämlich nur einen einzigen einheitlichen Islam. Er schreibt:

„An dieser Stelle erlaube ich mir zum ersten Mal die These zu vertreten, dass es keinen moderaten und keinen extremistischen Islam gibt, es gibt auch keinen wahren und keinen falschen Islam. Es gab und gibt nur einen Islam. Die Grundlage für diesen einheitlichen Islam ist der humanistisch-ethische Koran, der Räume schafft, um frei zu denken und sein Leben selbstbestimmt zu gestalten.“ (These 39, S. 222)

Frage: Wie viele Islame gibt es denn nun? Und wenn es nur einen „einheitlichen Islam“ gibt, wie wir in These 39 sahen, und wenn dieser auf dem „humanistisch-ethischen“ Koran fußt: Muss dann dieser Islam nicht zugleich der aus These 20 („Der Islam hat ein gestörtes Verhältnis zur Reflexion“) und These 33 („Der Islam hat die Frauen nicht zu freien Menschen gemacht, sondern zu Knechten der Männer“) sein? Wenn aber in These 39 nur der „reformierte Islam“ als der „einzige Islam“ gemeint ist, und wenn es darüber hinaus gar keinen „wahren und falschen Islam“ gibt – wie und wo ist dann der „konservative Islam“ platziert, gegen den sich das ganze Buch doch richtet? Oder sollte man doch „in der Islamischen Theologie von der Vorstellung Abschied nehmen, dass es nur „einen“ Islam gibt“, wie Herr Ourghi in These 5 doch moniert hatte (Seite 59). Und wenn doch Pluralismus: In welchem semantischen oder arithmetischen oder sonstigem beliebigen Verhältnis steht dies zum „einen einheitlichen Islam“ aus These 39?

(Ich habe noch ein gutes Dutzend ähnlicher Inkohärenzvermutungen und Kritikpunkte an den 40 Thesen, aber spare mir diese vielleicht für einen späteren Text auf.)

Mein Fazit: Die 40 Reformthesen von Herrn Ourghi lassen den aufmerksamen Leser, der das Buch sehr ernst nimmt, bei vielen Fragen, zu denen man sich eine Weitung des Horizontes, eine Präzisierung von Konzepten und eine Fülle an analytisch klaren Argumenten erwartet, ratlos zurück. Zumindest ist es mir so ergangen. Dabei ist die literarische Form eigentlich didaktisch sehr gut gewählt: 40 Thesen versprechen Übersichtlichkeit und Verbindlichkeit. Die Zahl „40“ knüpft an die islamische Tradition an, in der sie oft als Symbol für religiöse Reife verstanden wird. Der Begriff „These“ erinnert an den Thesenanschlag von Martin Luther, und stellt das Buch damit in einen europäischen Kontext und betont gleichzeitig den damit verbundenen Reformanspruch des Autors. Leider wird das Buch nach meinem Eindruck aber keinem dieser impliziten Versprechungen gerecht. Ich persönlich würde vorschlagen, dass Herr Ourghi die 40 Thesen nochmals komplett neu schreibt und ein höchstes Augenmerk auf begriffliche Präzision und logische Stringenz legt – nicht, weil ich ihm diese Fähigkeiten generell absprechen möchte, sondern damit ein naiver Leser, wie ich es bin, analytisch präzisere und in sich konsistente Thesen vorfindet, und keinen Wald aus inkohärenten Slogans, Stichworten und populistischen Anklagen. Dann könnte man zu seinen Reformvorschlägen in ihrem systematischen Zusammenhang Stellung beziehen, vielleicht sogar etwas Neues daraus lernen.

7)   Zum Abschluss: Eine diskursanalytische Reflexion

Eine Zusammenfassung der Kapitel 3 bis 6 findet sich in Kapitel 2. Das wichtigste Fazit der gesamten Betrachtung besteht für mich in der Feststellung, dass sowohl die Stiftung, als auch Herr Ourghi in großen Teilen der medialen Darstellung falsch eingeschätzt werden, und dass die breite Entrüstung über die Stiftung höchstwahrscheinlich ebenso unberechtigt und reflexhaft ist wie die Titulierung von Herr Ourghi als wichtigen liberalen Islamreformer. Es erweist sich als notwendig auf konkrete Praktiken, Aussagen und Wirkungsweisen zu blicken, um gerade die direkten Parteien solcher Konflikte besser und differenzierter einschätzen zu können. Da die aktuelle Debatte sich in sehr kurzer Zeit in Richtung einer grundsätzlichen Infragestellung der Stiftung und damit implizit des IRU entwickelt hat, und da mir der Erhalt des IRU in BW wichtig ist, war es mir ein Anliegen mit dieser sicherlich auch sehr subjektiven und persönlichen Stellungnahme einen Beitrag zu einer Versachlichung der Debatte zu leisten. Ich habe dabei jedoch versucht meine Subjektivität transparent zu machen und zu zeigen, dass ich für viele meiner Einschätzungen Argumente verschiedenster Art vorweisen kann. Diese Einschätzungen und Argumente ohne Angst öffentlich machen zu können ist mein Verständnis von einem freien Diskurs. Ich wünsche mir, dass dies respektiert wird.

Ich bin zugleich skeptisch, was die Aussicht meines Textes betrifft zu einem grundsätzlichen Umdenken anzuregen. Dies liegt aber nicht daran, dass ich meinen Argumenten nicht trauen würde. Im Gegenteil: Ich finde, ich habe gute Argumente vorgelegt. Meine Skepsis hat einen anderen Grund: Das im Diskurs schon längst erreichte Konfliktszenario (liberal vs. konservativ) stellt einen diskursiven Attraktor, also eine außerordentlich stabile Diskursstruktur dar, da sie an eine wichtige Hauptader des deutschsprachigen oder überhaupt des abendländischen Diskurses um Islam und islamische Identität anknüpft. Ich bezeichne diese Ader als „eskalierender Konfliktdiskurs“. Sie kennt kein versöhnlich erreichbares Happy End, was sie umso verbissener kämpfen lässt. Sie kennt nur das Bild eines totalen Sieges der einen Seite über die andere, die als Gefahr konstruiert und geglaubt wird.

Welch fürchterliche Vorstellung!

Eskalierende Konfliktdiskurse (im Kontext des Islams) gehen von einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit von islamischer und säkular-christlich geprägter mitteleuropäischer Identität aus. Wichtige Varianten dieses Diskurstyps sind kollektive Ausgrenzungsdiskurse (KAD) und die damit verwandten Superioritäts-Inferioritätsdiskurse (SID) mit der islamischen Kultur in der inferioren und der mitteleuropäischen Kultur in der superioren Rolle. Die KAD’s und insbesondere die SID’s besitzen eine lange Tradition und verfügen über Selbstverstärkungsmechanismen, die mehrere thematische Ebenen kohärent miteinander koppeln, und in der Argumente gegenüber den habituellen Denkmustern eine nachgeordnete und eine Ex-post-Rolle spielen. (Dies alles gibt es umgekehrt und in ähnlicher Form auch in mehrheitlich muslimisch dominierten Diskursen, auf die ich an anderer Stelle eingehen möchte).

Mein Versuch in dieser Stellungnahme versucht die aktuelle Thematik aus dem Modus des eskalierenden Konfliktdiskurses in Kategorien des differenzierten Anerkennungsdiskurses zu überführen. Der differenzierende Anerkennungsdiskurs ist wohl zu unterscheiden von egalisierenden Relativierungsdiskursen, die die dritte große Ader des abendländischen Islamdiskurses darstellen. Der differenzierende Anerkennungsdiskurs geht von einer Unschuldsvermutung gegenüber islamischer Identität aus, hat jedoch eine klare normative Basis, aus der sich auch die Möglichkeit und Praxis des differenzierten (aber nicht totalisierenden) Einspruchs und Neinsagens ergibt. Diese Ader des Islamdiskurses scheint heutzutage leider schwächer ausgeprägt als der kollektive Ausgrenzungsdiskurs und der Superioritäts-Inferioritätsdiskurs. Das ist ein Problem, dem mit Argumenten alleine nicht beizukommen ist. Es bedarf hierzu vielmehr einer breitflächigeren Verstärkung dieses Diskurstyps.

Ich plädiere hier für eine stärkere Differenzierung, scheitere jedoch womöglich daran, dass der hegemoniale Islam-Diskurs, der oft in den Kategorien der KAD’s und SID’s arbeitet, keinen Sinn in solchen Differenzierungsversuchen kennt. Dennoch halte ich es für wichtig mit diesem Text beispielhaft auf die Schwächen der SID‘s und KAD’s hinzuweisen. Denn so wie Herr Ourghi den SID und den KAD auf beeindruckende Weise zusammenführt, so zeigen sich bei näherem Blick auch die Schwächen beider Diskursvarianten bei ihm auf deutliche Weise.

Kritisierbar zu sein ist der Preis, den wir zahlen, wenn wir öffentlich reden und schreiben. Ob der Preis die Mühe wert ist, zeigt sich manchmal an den Folgen, aber viel öfter am Votum des Gewissens.

Ich möchte abschließen mit der Stelle aus Herr Ourghis 40 Thesen, die mich am meisten bewegt hat. In der Einleitung seines Buches (S. 12) erklärt Herr Ourghi den Grund für sein Schreiben unter anderem mit einem Zitat, das auch meine Stimmung gut umschreibt, als ich daran ging mehrere Tage meiner Sommerferien 2021 damit zu verbringen diese Stellungnahme hier zu verfassen.

Es ist ein Zitat, das Martin Luther zugeschrieben wird:

„Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“

Fußnoten

[1] Ähnlich ist es einem Kollegen von Herrn Ourghi, nämlich Herrn Abdelhafiez Massud, an der PH Weingarten ergangen. Es ist mir aus Zeitgründen nicht möglich diesen zweiten Stranges hier ebenfalls zu vertiefen. In diesem Beitrag fokussiere ich auf die primär mit Herrn Ourghi in Verbindung stehende Debatte, da diese eine deutlich andere Qualität und Vorgeschichte aufweist als die Situation in Weingarten. Gemeinsam ist beiden Standorten meines Wissens, dass die Ausbildung dort über mehrere Jahre von im Wesentlichen stets einer einzigen Person vertreten wurde, was nicht zuletzt mit der geringen Studierendenzahl vor Ort zusammenhängen könnte.

[2] https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.diskussion-um-abdel-hakim-ourghi-liberaler-islamwissenschaftler-will-sich-gegen-lehrverbot-wehren.ab6a342b-f57e-403c-b294-cdc4e25010c3.html – abgerufen am 2.9.21.

[3] https://www.bild.de/politik/inland/politik/mit-staatlicher-unterstuetzung-liberaler-islam-ausbilder-aus-uni-gemobbt-76830422.bild.html – abgerufen am 2.9.21.

[4] Laut Idschaza-Ordnung ist für Hochschullehrkräfte u. a. erforderlich: „der Nachweis des erfolgreich abgeschlossenen Lehramtsstudiums im Fach Islamische Theologie/Religionspädagogik oder Islamische Religionslehre bzw. eines gleichwertigen Abschlusses und ggfs. weiterer akademischer Abschlüsse“ https://www.sunnitischer-schulrat.de/index.php/lehrbefugnis – abgerufen am 7.9.21.

[5] Vergleiche beispielsweise das notwendige „Nihil obstat“ für Hochschullehrkräfte in der katholischen Theologie: „Der Staat verpflichtet sich regelmäßig, eine Anstellung von Theologieprofessoren erst dann vorzunehmen, wenn nach dem vertragsrechtlich festgelegten Procedere feststeht, dass der zuständige Diözesanbischof keine Einwände gegen Lehre und Lebenswandel des Betreffenden erhebt.“ Quelle: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Kirchliche_Lehrbefugnis – abgerufen am 19.8.2021.

[6] „Ourghi vermutet ideologische Gründe dahinter: Es sei bundesweit bekannt, dass er und die PH für einen liberal aufgeklärten Islam stünden.“ https://www.sueddeutsche.de/politik/regierung-stuttgart-islamunterricht-kretschmann-warnt-vor-scheitern-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210713-99-367425?fbclid=IwAR0Hunfy32vg34NcGkbK6BYSnazt6z0VvxPVM4s4gOj912Ma-a8gpXWC7Ms – abgerufen am 19.8.2021.

[7] So beispielsweise in einem öffentlichen Facebook-Posting von Herrn Ourghi am 12.8.2021: „Nun sage ich es ganz deutlich: Die Stiftung muss endlich aufgelöst werden.“

[8] So beispielsweise in einem öffentlichen Facebook-Posting von Herrn Ourghi am 16.8.2021: „Die Stiftung des sunnitischen Schulrats ist verfassungswidrig. Die beiden Dachverbände sind eine Gefahr für unserer Demokratie und unsere westlichen Werte.“

[9] Ebd.

[10] https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.streit-um-islamtheologie-islamunterricht-vor-dem-aus.1e176ee6-cb67-4e01-9055-d4f8b5600cbb.html?reduced=true – abgerufen am 19.8.21.

[11] Vgl. FAZ vom 30.6.: „Lehrverbote durch Fundamentalisten“ https://www.genios.de/presse-archiv/artikel/FAZ/20210630/lehrverbote-durch-fundamentalisten-/FD1202106305000355347144.html – abgerufen am 19.8.21.

[12] Zudem möchte der Artikel von Weißenborn nun auch Mitgliedern der Schiedskommission, die seit Jahren öffentliche akademische Persönlichkeiten sind und die das Land und die Verbände einvernehmlich ernannt haben, durch voraussetzungsreiche Kontaktschuldkonstruktionen und unter Berufung auf kritische Meinungen von ebenfalls nicht unumstrittenen Einzelpersonen, die Redlichkeit und Eignung absprechen. Auf diesen in dieser Schärfe neu hinzugekommenen Aspekt möchte ich aus Platzgründen und aufgrund nicht abgeschlossener Recherchen hierzu im Folgenden nicht weiter eingehen.

[13] Vgl. https://www.sunnitischer-schulrat.de/index.php – abgerufen am 19.8.21.

[14] Es heißt oft, die Verbände seien nicht repräsentativ für die Muslime. Und die beiden kleineren Verbände, die nun in der Stiftung vertreten sind, seien noch viel weniger repräsentativ. Das kann in der Tat zutreffend sein, aber: Zur Erfüllung der verfassungsrechtlichen Bedingung für einen Religionsunterricht, ist auch dies zunächst ausreichend (was nicht heißt, dass das Ergebnis deswegen auch unter allen Gesichtspunkten „gut genug“ ist). Ferner ist aktuell völlig unklar, auf welche andere Weise man noch repräsentativere Strukturen als die Verbände unter den sunnitisch geprägten Muslimen finden könnte, die zudem noch lückenlos die Bedingungen des deutschen Kirchenverfassungsrechts für eine anerkennbare Glaubensgemeinschaft erfüllen, was die Stiftung dann wohl erstmals wirklich obsolet machen würde.

[15] Aus dem Vertrag zwischen dem Land und den beiden islamischen Verbänden: „Das Land respektiert, dass die Gemeinschaften weiterhin die Trägerschaft für den Islamischen Religionsunterricht sunnitischer Prägung gem. Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz und Art. 18 Verfassung des Landes Baden-Württemberg zu einem möglichst baldigen Zeitpunkt anstreben. Die Gemeinschaften nehmen zur Kenntnis, dass das Land die Voraussetzungen hierfür derzeit nicht als gegeben ansieht.“ https://www.sunnitischer-schulrat.de/index.php/vertrag – abgerufen am 19.8.2021.

[16] Dabei handelt es sich um alevitische, altkatholische, katholische, evangelische, jüdische und syrisch-orthodoxe Religionslehre. Zusammen mit dem islamischen Religionsunterricht sunnitischer Prägung kommt man so auf sieben Religionsfächer, die im Bildungsplan 2016 für BW vertreten sind. Vgl. http://bildungsplaene-bw.de/ – abgerufen am 19.8.2021.

[17] https://www.sunnitischer-schulrat.de/index.php/vorstand – abgerufen am 19.8.2021.

[18] Vgl. https://www.sunnitischer-schulrat.de/index.php/stiftungssatzung – abgerufen am 19.8.2021.

[19] Ebd.

[20] Ebd.

[21] Ebd.

[22] https://www.sunnitischer-schulrat.de/index.php/vertrag – abgerufen am 19.8.21.

[23] FAZ, aktualisiert am 30.6., https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/abdel-hakim-ourghi-islamreformer-ohne-reformerlaubnis-17414071.html – abgerufen am 19.8.2021.

[24] Unter „Aktuelles“ vermeldet die Stiftung am 28.6.21:„Der Sunnitische Schulrat freut sich mitteilen zu können, dass alle ausstehenden Anträge auf Erteilung einer Lehrbefugnis für den Islamischen Religionsunterricht an Schulen in Baden-Württemberg bewilligt wurden.“ https://www.sunnitischer-schulrat.de/index.php/aktuelles

[25] Vgl. https://www.sunnitischer-schulrat.de/index.php/lehrbefugnis – abgerufen am 19.8.21.

[26] https://idschaza-hamburg.de/ordnung-fuer-die-islamische-lehrerlaubnis-fuer-religionslehrkraefte-in-der-freien-und-hansestadt-hamburg-idschaza/ – abgerufen am 19.8.21.

[27] So in der FAZ vom 30.6.: „Lehrverbote durch Fundamentalisten“ https://www.genios.de/presse-archiv/artikel/FAZ/20210630/lehrverbote-durch-fundamentalisten-/FD1202106305000355347144.html – abgerufen am 19.8.2021.

[28] So in der FAZ, aktualisiert am 30.6.: „Der Religionspädagoge Abdel-Hakim Ourghi hat sich in Freiburg einen Namen als liberaler Islamreformer gemacht. Doch plötzlich wird seine Lehrbefugnis nicht verlängert.“ Entsprechend weit hergeholt scheint es mir daher auch Herrn Ourghi mit Hans Küng zu vergleichen, wie es im selben Artikel geschieht. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/abdel-hakim-ourghi-islamreformer-ohne-reformerlaubnis-17414071.html – abgerufen am 19.8.2021.

[29] https://www.sunnitischer-schulrat.de/images/20210628_Versachlichung_ro.pdf , S. 3. Abgerufen am 19.8.2021.

[30] https://www.sunnitischer-schulrat.de/index.php/vertrag – abgerufen am 19.8.21.

[31] https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Hochschullehrer&oldid=214912544 – abgerufen am 7.9.21.

[32] Auf der FAQ-Seite der Stiftung heißt es dazu: „Warum gibt es spezielle Regelungen für die PH Weingarten und die PH Freiburg? [Antwort:] Die Ausbildung dort wird derzeit von der Stiftung nicht anerkannt. Absolventen müssen sich voraussichtlich einem Interview bei der Stiftung unterziehen, bevor sie zum Vorbereitungsdienst zugelassen werden.“ https://www.sunnitischer-schulrat.de/index.php/faq-zum-iru – abgerufen am 7.9.21.

[33] Warum die Ausbildung in Freiburg und Weingarten (schon vor dem aktuellen Konflikt) nicht anerkannt wurde, lässt sich aus den mir vorliegenden Informationen nicht rekonstruieren. Entweder lagen unausgesprochene Vorbehalte gegenüber den dortigen Lehrenden (einschließlich Herrn Ourghi in Freiburg) vor, wie in bestimmten Medienberichten unter Plausibilitätsverdacht gemutmaßt wurde. Oder: andere Hindernisse, die man erst gründlich recherchieren müsste, standen im Weg. Dies wäre eine gute journalistische Übung für interessierte Leser*innen. Als Gemeinsamkeit zwischen beiden Standorten wurde stellenweise die „Liberalität“ der dortigen Dozierenden vermutet. Eine andere weniger bekannte Gemeinsamkeit lautet, dass dies die – meines Wissens – einzigen IRU-Standorte in BW sind, an denen die ganze Ausbildung von je einer einzigen Person getragen wird. Aber all dies müsste jemand erst gründlich recherchieren um den merkwürdigen Sachverhalt zu klären.

[34] https://cibedo.de/2021/06/23/konflikt-um-verweigerte-lehrbefugnis-fuer-islamwissenschaftler/ – abgerufen am 25.8.21.

[35] https://www.sunnitischer-schulrat.de/index.php/aktuelles – abgerufen am 25.8.21.

[36] https://www.sunnitischer-schulrat.de/images/20210628_Versachlichung_ro.pdf – abgerufen am 26.8.21.

[37] Daher vielleicht auch Herr Ourghis Klage darüber, dass die Stiftung Auskunft über die genauen besuchten Seminare „vor zwanzig Jahren“ einfordere. https://jungle.world/artikel/2021/35/irgendwas-mit-islam-anbieten – abgerufen am 6.9.21.

[38] https://www.sunnitischer-schulrat.de/images/20210628_Versachlichung_ro.pdf – S. 3. Abgerufen am 19.8.2021.

[39] https://www.sunnitischer-schulrat.de/index.php/vertrag – abgerufen am 19.8.21.

[40] https://www.sunnitischer-schulrat.de/index.php/lehrbefugnis – abgerufen am 19.8.21.

[41] Er selbst berichtet: „Die Studierenden geben mir auch Feedback, dass sie anfangen, kritischer zu denken, und sich immer mehr trauen, Dogmen zu hinterfragen, ohne Angst.“ https://jungle.world/artikel/2021/35/irgendwas-mit-islam-anbieten – abgerufen am 6.9.21. Es wäre sicher hilfreich direkt diese Studierenden zu befragen. (Zur Ergänzung: Am ZITh hatte ich auch nicht Eindruck, dass Studierenden Angst davor gemacht wird Dogmen zu hinterfragen, oder dass die Studierenden dort nicht dazu angeregt werden kritisch zu denken.)

[42] Was das bei mir im theologischen Kontext genau heißt, habe ich meiner „Einführung in die analytische Koranhermeneutik“ anhand vieler Beispiele erklärt, zu finden auf:  https://andalusian.de/analytische-islamische-theologie-und-koranstudien/einfuehrung-in-die-analytische-koranhermeneutik . Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht im von Lamya Kaddor herausgegebenen Sammelband „Muslimisch und liberal – Was einen zeitgemäßen Islam ausmacht „(München 2020, S. 35-54). Mein Ansatz bezeichnet sich ausdrücklich nicht als „liberal“ und ist unabhängig von den anderen Texten im Buch, deren Autor*innen teilweise ebenfalls auf den Begriff „liberal“ gänzlich verzichten. Es sind also durchaus verschiedene freiheitliche Positionierungen möglich, insbesondere auch im wertschätzenden Dialog mit anderen muslimischen Stimmen.

[43] Beispielsweise hier: https://www.rnz.de/politik/suedwest_artikel,-freiburg-hochschullehrer-ringt-mit-sunnitischer-stiftung-um-lehrerlaubnis-_arid,703132.html – abgerufen am 27.8.21.

[44] Presseerklärung vom 17.09.16, zu finden auf https://lib-ev.jimdo.com/ – abgerufen am 27.8.21

[45] Einige wenige Beispiele hierfür finden sich unter https://nixgut.wordpress.com/tag/moscheen-schliessen/ ,  http://www.pi-news.net/2021/06/der-importierte-antisemitismus/?print=print , https://www.pi-news.net/?s=abdel-hakim+ourghi&print=print-search , http://www.pi-news.net/2015/05/die-islamkritik-muss-zum-islam-gehoeren/ – alle abgerufen am 27.8.21). Dieses Ansehen bei den Islamkritikern bzw. teils bei den Rechtspopulisten ist insofern nicht verwunderlich, da Herr Ourghi dafür plädiert das Konzept „Islamkritik“ in die islamische Theologie einzubauen, als ob es sich hierbei um eine wissenschaftliche Methode handeln würde, und nicht um einen extremen Ausgrenzungsdiskurs, der seit 9/11 die gesamte Islamdebatte überschattet. Ferner greift Herr Ourghi viele rhetorische Muster der Islamkritik auf, die ich an anderer Stelle darstellen möchte. Unter dem letzteren der genannten Links schreiben die Islamkritiker übrigens: „Der gebürtige Algerier gilt als einer der führenden Koran-Experten.“ Dies verwundert. Ich frage mich, warum er in der etablierten Islamwissenschaft nie als solcher zitiert wird.

[46] Herr Ourghi hält in der These 38 fest: „… Wir Muslime sind keine Opfer“ (S. 217). Als Begründung dessen folgen Behauptungen wie die, dass Muslim*innen und insbesondere die Islamverbände gerne als Opfer posieren würde, obwohl sie selbst an allen Problemen schuld seien, über die sie sich beklagen. Bemerkenswert ist, dass genau diese Behauptungen seit Jahren schon in der Islamkritik und in Rechtspopulismus vertreten werden. In jedem Fall lassen sich hieraus meines Erachtens keinerlei liberale Perspektive ableiten.

[47] In seiner These 7 erklärt Herr Ourghi als Ziel der Reform im Islam: „Das Ziel ist vielmehr die Modernisierung des Islam und seine Anpassung an die westliche Kultur.“ (S. 71). Eine derart undifferenzierte Glorifizierung von „westlicher Kultur“ bei gleichzeitiger Verurteilung von nahezu allem traditionell Islamischem scheint mir kein guter Ansatzpunkt dafür innerislamische Reformbewegungen anzuregen, da sie offensichtlich einen totalen Assimilationismus fordert.

[48] https://www.schwaebische.de/sueden/baden-wuerttemberg_artikel,-opposition-springt-liberalen-islamwissenschaftlern-in-freiburg-und-weingarten-bei-_arid,11385472.html – abgerufen am 27.8.21.

[49] https://hpd.de/artikel/islam-und-sexuelle-diskriminierung-12865 – abgerufen am 27.8.21.

[50] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-01/silvesternacht-koeln-fluechtling-syrien-bericht/seite-2 – abgerufen am 27.8.21.

[51] https://www.youtube.com/watch?v=L1q-5C835pM – abgerufen am 27.8.21.

[52] Im oben verlinkten Video zum Zeitpunkt 0:47 „Aber bedienen Sie damit nicht uralte Stereotype vom fremden Barbaren, der die unschuldige weiße Frau bedrängt?“

[53] https://www.fr.de/kultur/muslime-werden-dazu-erzogen-juden-hassen-11002664.html – abgerufen am 27.8.21.

[54] https://www.fr.de/kultur/islam-nicht-pauschal-antisemitisch-11002713.html – abgerufen am 27.8.21.

[55] Ebd.

[56] https://www.nzz.ch/feuilleton/importierter-antisemitismus-wie-ich-zum-judenhasser-wurde-ld.1626714 – abgerufen am 27.8.2021.

[57] Ich habe einige Thesen und Argumente aus dieser islamwissenschaftlichen Quelle unter anderem hier dargestellt: https://andalusian.de/analytische-islamische-theologie-und-koranstudien/uber-die-militarischen-konflikte-des-propheten-mit-den-juden-von-medina

Quellen

Die verwendeten Quellen sind meine Erfahrungen, mein Hirn und die in den Fußnoten und Klammern angegebenen Referenzen. Ich danke Ihnen für die Lektüre und das Durchhalten bis hierher. Falls Sie den Text noch gar nicht gelesen haben und sich die Quellen zuerst angeschaut haben: Kein Problem! Dieser Text lässt sich auch kapitelweise in umgekehrter Richtung lesen 😊