Antisemitische Äußerungen und Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern, die einen wie auch immer gearteten muslimischen Hintergrund haben, legen eine eigene pädagogische Reflexion nahe, die hier in Form von drei Teilen erfolgen soll. Teil 1 thematisiert die differenzierte Intervention bei antisemitischen Äußerungen und ist von allgemein pädagogischer Art. Die Teile 2 und 3 stellen dar, wie durch einen Vergleich der Vorurteilsstrukturen gegen Jüdinnen und Juden sowie Musliminnen und Muslime, durch eine Pluralisierung des Islamdiskurses (in Form differenzierbarer Islamverständnisse) und durch eine Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten von Judentum und Islam Akzeptanz und Wertschätzung gefördert werden können. Die Teile 2 und 3 betreffen den Fachunterricht insbesondere in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern. Der letzte Abschnitt von Teil 3 enthält eine für die Religionslehren und für Ethik gedachte Vertiefung.

Inhalt

1. Identitätssensible Intervention bei antisemitischen Äußerungen
1.1 Pädagogische Unschuldsvermutung, Gleichbehandlung und Gelassenheit als Grundhaltung
1.2 Antisemitismus und Kritik an der Politik Israels unterscheiden
1.3 „Jude“ als Schimpfwort
1.4 Transparentmachung des Urteilsprinzips
2. Unterrichtlicher Fokus für die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer: Juden und Muslime
2.1 Empathische Vergleiche von Erfahrungen mit Vorurteilen und Ausgrenzung
2.2 Hinweis auf jüdisch-islamische und weitere interkulturelle Solidarität in der Gegenwart
3. Unterrichtlicher Fokus insbesondere für die Religionsfächer und Ethik: Islam und Judentum
3.1 Problematische Islamverständnisse kontextualisieren und relativieren
3.2 Gemeinsamkeiten von islamischer und jüdischer Religion und traditioneller Lebensweise

Alle drei Teile folgen Grund­sätzen einer identitätssensiblen Pädagogik, die hier auf den speziellen Kontext des Umgangs insbesondere mit muslimischen Lernenden bezogen ist.[1] Dieser pädagogische Ansatz nimmt aktuelle politische Diskurse und Entwicklungen als Hintergrund ernst, geht jedoch davon aus, dass die Lernenden (noch) keine Akteure der öffentlichen Diskurse sind – wenngleich sie wie auch Lehrkräfte von diesen nicht unbeeinflusst sind – und dass der unterrichtliche Diskurs primär pädagogischen und bildungstheoretischen Maßstäben folgen muss.

1. Identitätssensible Intervention bei antisemitischen Äußerungen

1.1 Pädagogische Unschuldsvermutung, Gleichbehandlung und Gelassenheit als Grundhaltung

Die meisten muslimischen Schülerinnen und Schüler weisen keine geschlossenen antisemitischen Weltbilder auf. Nicht zuletzt deshalb ist es falsch, Antisemitismus für eine Gruppeneigenschaft von religiösen Musliminnen und Muslimen zu halten. Darum sollte muslimischen Schülerinnen und Schülern dieselbe pädagogische Unschuldsvermutung zukommen wie allen anderen auch. Damit gemeint ist die Haltung der Lehrkraft, nicht mit einer Unheilserwartung an Schülerinnen und Schüler heranzutreten und auch keiner Logik des unbegründeten Verdachts zu folgen. Ebenso ist von Bedeutung, dass Schülerinnen und Schüler die Reichweite und Wirkung potenziell antisemitischer oder rassistischer Äußerungen oft nicht einschätzen können, dass sie in politischen Fragen oft unreflektiert Diskursfragmente der „Erwachsenen“ oder Peers aus bestimmten sozialen Milieus reproduzieren – und dass sie zugleich in der Regel empfänglich für sachliche und nicht verurteilende Interventionen sind. Eine Reaktion auf antisemitische Äußerungen von muslimischen Schülerinnen und Schülern sollte daher aus derselben pädagogischen Grundhaltung erfolgen wie gegenüber allen anderen Schülerinnen und Schülern auch: bestimmt im Inhalt und in der Werteorientierung, argumentativ und rational im Ton, zuversichtlich und anspruchsvoll hinsichtlich der Lernbereitschaft der entsprechenden Lernenden.

1.2 Antisemitismus und Kritik an der Politik Israels unterscheiden

Musliminnen und Muslime, also auch gläubige und praktizierende Musliminnen und Muslime, bilden kein ideologisches Kollektiv, sondern zerfallen in zahlreiche Milieus mit sehr unterschiedlichem ethnischem und ideologisch-politischem Hintergrund sowie Bildungshintergrund – dies gilt natürlich auch innerhalb muslimischer Flüchtlinge. Zugleich ist in den meisten muslimisch geprägten Milieus – also auch den säkularisierten – eine Identifikation mit der palästinensischen Seite anzutreffen. Dies zeigt sich in der Schule eher bei älteren Schülerinnen und Schülern, und zwar in einer verschieden artikulierten kritischen Haltung gegenüber Israels Sicherheits- und Siedlungspolitik, manchmal aber auch gegen den Staat Israel generell.

Für unser Thema genügt dabei zunächst folgende Unterscheidung: Oft ist eine solche kritische Haltung eine legitime politische Position, die auch von vielen Nichtmuslimen, einschließlich zahlreicher Jüdinnen und Juden und Israelis differenziert vertreten wird. Diese Legitimität gilt, wenn weder Jüdinnen und Juden sowie Israelis noch der Staat Israel als jüdisches Kollektiv pauschal dämonisiert werden, noch eine Vernichtung Israels befürwortet oder legitimiert wird. In diesem Fall besteht hier kein Anlass zu einem Antisemitismusverdacht und es kann wie gewohnt fachlich-pädagogisch gearbeitet und bei Bedarf inhaltlich korrigiert und differenziert werden.

Andererseits gibt es auch unter Musliminnen und Muslimen aber auch solche mit einer deutlich antisemitischen Haltung, die Jüdinnen und Juden sowie Israel generell dämonisieren und zur Wurzel des Übels in der Welt und Geschichte erklären und manchmal sogar versuchen, dies durch vermeintlich wissenschaftliche oder vermeintlich islamisch-religiöse Argumente zu untermauern. Bei von Lernenden geäußerter Kritik an Israel sollte zunächst vom harmloseren Fall ausgegangen werden, der legitim und auf Augenhöhe diskutierbar ist – außer es liegen deutliche Hinweise für den zweiten Fall vor, auf den dann entsprechend reagiert werden muss.[2] Für eine Reaktion auf antisemitische Äußerungen bieten sich folgende Punkte an, die hier an einem Beispiel dargestellt werden.

1.3 „Jude“ als Schimpfwort

In letzter Zeit mehren sich Berichte, dass „Jude“ unter Schülerinnen und Schüler als Schimpfwort verwendet wird – von Seiten muslimischer sowie nicht muslimischer Schülerinnen und Schüler und zwar sowohl gegen jüdische, als auch gegen nichtjüdische Schülerinnen und Schüler. In solchen Fällen ist eine sofortige Intervention unabdinglich, da hier ein antisemitischer verbaler Ausfall in Form einer Degradierung der Selbstbezeichnung „Jude“ zu einem Schimpfwort vorliegt. Die Form der Intervention kann je nach individuellem Situationskontext und dessen Vorgeschichte unterschiedlich ausfallen und in wiederholten Fällen auch Strafmaßnahmen nach §90 Schulgesetz beinhalten. Allerdings sollten auch hier immer pädagogische Maßnahmen vorgeschaltet werden und der Schutz der von der antisemitischen Äußerung Betroffener im Vordergrund stehen.

Wichtig ist, dass die Intervention zeitnah und klar erfolgt und dass allen an der Situation Beteiligten deutlich wird, dass die Schule solche Formen von Verbalantisemitismus unter keinen Umständen duldet. Darüber hinaus ist wichtig, dass die Form und Intensität der Intervention unabhängig von der (mutmaßlichen) Identität der verursachenden Schülerin bzw. des verursachenden Schülers erfolgt und dass immer individuell und situationsbedingt abgewogen wird, was pädagogisch sinnvoll ist[3].

1.4 Transparentmachung des Urteilsprinzips

Zur Aufarbeitung sollte der oder dem betreffenden Lernenden und allen anwesenden Schülerinnen und Schülern (Betroffene, Zeuginnen und Zeugen) die Universalität des zugrunde liegenden Prinzips der Missbilligung bzw. Sanktionierung durch die Lehrkraft klar gemacht werden. Dies ist die Stelle, an der eine Berücksichtigung des muslimischen Hintergrundes hilfreich für eine nachhaltige pädagogische Intervention sein kann. Diese Berücksichtigung bezweckt vor allem das Vermeiden von kontraproduktiven Missverständnissen, die aus der für die Lehrkraft meist intransparenten Verwebung von Hintergrunddiskursen resultieren können. Missverständnissen kann vorgebeugt werden, wenn auf folgende zwei allgemeingültige Punkte hingewiesen wird: Bei der Sanktionierung geht es ausschließlich um den konkreten Inhalt der Aussage, und nicht um mutmaßliche Absichten oder Weltbilder dahinter, die mit der vermuteten muslimischen Identität der bzw. des Lernenden in Verbindung gebracht werden. Es sollte in der Kommunikation also deutlich zwischen der Aussage und der (mutmaßlichen) religiös-kulturellen Identität der oder des betreffenden Lernenden unterschieden werden. Dazu gehört auch, auf offensichtlich auf muslimische Adressaten gemünzte und Klischees reproduzierende erhobene Zeigefinger wie „in einem säkularen Staat wie in Deutschland“ oder auf Vergleiche mit antisemitischen Positionen in der islamischen Welt zu verzichten.

Noch wesentlicher ist es, deutlich zu machen, dass antisemitische Äußerungen nicht etwa deswegen verwerflich sind, weil „Juden in Deutschland nicht beleidigt werden dürfen“, sondern weil „generell [also nicht nur bei ,uns‘] Menschengruppen nicht beleidigt werden dürfen, also Jüdinnen und Juden, sowie auch andere Gruppen wie Katholikinnen und Katholiken, Musliminnen und Muslime, Konfessionslose…“. Damit kann plausibel gemacht werden, dass eine beleidigend gemeinte Verwendung von zunächst neutralen Identitätsbegriffen wie „Moslem“ oder „Türke“ oder eindeutig abwertende Fremdbezeichnungen wie „Neger“ oder „Schwuchtel“ ebenso geahndet werden würden. Wirksamer als alleinige Sprechverbote kann in diesem Zusammenhang das gemeinsame Ausformulieren von Sprachregelungen für diskriminierungskritische Sprache durch die Schülerinnen und Schüler selbst sein: Welche Begriffe sind wann und warum beleidigend? Wo ist die Grenze zum Scherz? Wer entscheidet? Die gemeinsam erarbeiteten Regeln sollten zum Ziel haben, die Schule zu einem Raum zu machen, der frei von Verletzungen durch Sprache ist und in dem eine abwertende Verwendung von allgemein anerkannten Identitätsbezeichnungen ausgeschlossen bleibt. Solche Reflexionen stellen eine nachhaltige Übung in menschenrechtlichem Denken dar, die alle Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit miteinbezieht und keine Hierarchien und Opferkonkurrenzen konstruiert.

So kann exemplarisch vertieft werden, dass sowohl Antisemitismus als auch Muslimfeindlichkeit für eine pauschale und öffentlichkeitswirksame Verachtung von Menschengruppen stehen, was bis zur Ausgrenzung und Entrechtung der betroffenen Individuen führen kann. Da zahlreiche muslimische Schülerinnen und Schüler selbst von Erfahrungen mit antimuslimischem Rassismus außerhalb, aber auch innerhalb der Schule berichten, etwa auf der Basis individuell so zugeordneter Erlebnisse, oder durch die Wahrnehmung von kollektiver diskursiver Stigmatisierung in der öffentlichen „Islamdebatte“, kann das Argument der Reziprozität von Menschenrechten (also der Gegenseitigkeit bzw. Austauschbarkeit der Einzelakteure), die auch Musliminnen und Muslimen ungeteilt zukommen, gerade bei muslimischen Schülerinnen und Schülern, die das hier problematisierte Verhalten an den Tag legen, Einsicht durch Empathie bewirken.

Wichtig ist es bei solchen Legitimationen durch Grundrechtevergleich zu beachten, dass die oder der betreffende muslimische Lernende dabei nur dann selbst als Muslimin oder Muslim angesprochen werden sollte, wenn er sich selbst immer wieder so bezeichnet. Ansonsten sollte der Vergleich mit dem muslimischen Kontext allein als Beispiel angeführt werden, ohne ihn ausdrücklich auf die Schülerin oder den Schüler zu beziehen. Wenn die Universalität des Prinzips geklärt wurde, sollte vertiefend ergänzt werden, dass die Deutschen historisch bittere Erfahrungen mit den Folgen von Antisemitismus gemacht haben, was die erhöhte Sensibilität in unserer Gesellschaft dafür erklärt.

2. Unterrichtlicher Fokus für die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer: Juden und Muslime

Ein vielversprechender, aber eher selten genutzter Ansatz bei der Sensibilisierung gegen Antisemitismus im muslimischen Kontext und bei der allgemeinen Förderung von Empathie besteht darin, auf die zahlreichen Parallelen zwischen Jüdinnen und Juden und Musliminnen und Muslimen  hinzuweisen – sowohl auf Ähnlichkeiten in den Diskriminierungserfahrungen und Vorurteilsstrukturen als auch auf die tiefe theologische Verwandtschaft zwischen Islam und Judentum.

2.1 Empathische Vergleiche von Erfahrungen mit Vorurteilen und Ausgrenzung

Obwohl eine Gleichsetzung von Muslimfeindlichkeit und Antisemitismus vermieden werden sollte, kann es im pädagogischen Kontext zielführend sein, auf ähnliche Erfahrungen von Ausgrenzung und kollektiver Stigmatisierung mit negativen Fremdzuschreibungen bei jüdischen und muslimischen Mitmenschen hinzuweisen.

Im Folgenden sollen einige solcher möglicher Erfahrungen aufgezählt werden. Eine vollständige Darstellung und detaillierte Würdigung ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich.

Genannt werden kann…

  • die Erfahrung pauschal als „nicht deutsch“, „fremd“ etikettiert zu werden, z. B. über Fragen wie „woher kommst du, woher kommst du wirklich?“
  • die Erfahrung, als Repräsentantin oder Repräsentant einer Religion (Islam) oder eines Landes (Israel) wahrgenommen zu werden und sich für diese bzw. dieses rechtfertigen oder als Expertin oder Experte für diese herhalten zu müssen,
  • die Erfahrung, dass diese pauschal dämonisiert werden („Israelkritik“, „Islamkritik“) und erwartet wird, dass man sich dazu in irgendeiner Weise positioniert (z. B. dies kommentiert, sich distanziert etc.),
  • die Erfahrung, dass die eigenen religiösen Festtage und Traditionen in der Schule unsichtbar sind oder manche Praktiken pauschal als kinder- oder tierfeindlich verurteilt werden (Beschneidung der Jungen, Schächten),
  • die Erfahrung, nicht als Individuum, sondern als Zugehörige oder Zugehöriger einer Gruppe wahrgenommen zu werden, dessen Gefühle und Verhalten man über vermeintliche Kenntnisse der entsprechenden „völlig anderen Kultur“ und/ oder aus religiösen Texten erschließen könne,
  • die Erfahrung, dass das eigene Verhalten, insbesondere wenn es negativ auffällt, etwas mit der „völlig anderen“ Kultur oder Religion zu tun haben müsste,
  • die Erfahrung, dass die eigene Religion mit extremistischen Strömungen innerhalb dieser Religion gleichgesetzt wird (radikale Islamisten, radikale Siedlerjugend, „Hügeljugend“).

Unabhängig davon, ob eine Bewusstmachung solcher unerfreulicher Gemeinsamkeiten von der Lehrkraft eher situationsbezogen bzw. bei der Besprechung von aktuellen Vorfällen gemacht wird, oder ob Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit als Phänomene im Fachunterricht thematisch behandelt werden, ist es wichtig, dass bei solchen Vergleichen die Einzelproblematiken wie die des Antisemitismus nicht relativiert werden. Richtiger ist es, die Phänomene einzeln und zunächst unabhängig voneinander auch in ihrer historischen Entwicklung (Antijudaismus, Kolonialismus etc.) zu würdigen und in einem davon getrennten Schritt (davor oder danach) auf deren Gemeinsamkeiten hinzuweisen, sodass ein Bewusstsein davon möglich wird, dass es viele Formen von Menschenverachtung gibt, die alle Leid auslösen und gegen die alle daher solidarisch zusammengearbeitet werden muss.

Die Subjekte in einem solchen Unterrichtsmodus humanistisch begründeter Wertschätzung sind dabei nicht Religionen und Kulturen, sondern Individuen mit ihren unveräußerlichen Grundrechten, wie sie auch die hier im Fokus stehenden Musliminnen und Muslime sowie Jüdinnen und Juden gleichermaßen besitzen. Ein mit diesem Ansatz verwandter Zugang wäre es, im Rahmen des Nahostkonflikts analoge Emotionen auf den beiden Seiten zu thematisieren. Beispielsweise kann die parallele Thematisierung von Angst in der israelischen Bevölkerung vor Raketenhagel und Anschlägen von palästinensischer Seite sowie die Angst unter Palästinenserinnen und Palästinensern vor massiver israelischer Militärgewalt manchmal mehr Problembewusstsein bewirken als die analytische Suche nach dem konkreten Verantwortlichen des Konflikts.

2.2 Hinweis auf jüdisch-islamische und weitere interkulturelle Solidarität in der Gegenwart

Die differenzierte unterrichtliche Analyse von bestehenden Konfliktfeldern sollte stets ergänzt werden durch eine Veranschaulichung von gelingendem jüdisch-islamischem Dialog bzw. von religions- und kulturübergreifender Solidarität gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Beispielsweise könnte man darauf hinweisen, dass…

  • der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland Josef Schuster mehrfach seine Solidarität mit Musliminnen und Muslimen ausdrückte, indem er die Verunglimpfung des Islam durch erstarkende islamfeindliche Strömungen in Deutschland ebenso verurteilte wie eine generalisierende Abwertung von Musliminnen und Muslimen durch diese,[4]
  • die Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Rede sowohl Antisemitismus als auch Muslimfeindlichkeit mit den Worten brandmarkte: „Wenn Frauen mit Kopftuch oder Männer mit Kippa angepöbelt oder angegriffen werden, muss unser Rechtsstaat mit aller Konsequenz einschreiten.“[5],
  • es zahlreiche islamisch-jüdische sowie christlich-islamisch-jüdische Friedens- und Dialoginitiativen in Deutschland gibt, die sich sowohl im universitären Rahmen als auch in Form lokaler Begegnungen für ein besseres gegenseitiges Verständnis einsetzen,[6]
  • es zahlreiche israelisch-palästinensische Friedensinitiativen gibt, die den eskalierenden Akteuren gegenzusteuern versuchen,
  • nach dem antisemitischen Anschlag auf eine Synagoge in Pittsburgh (USA) durch einen weißen Rechtsradikalen amerikanische Musliminnen und Muslime eine große Spendenaktion namens “Muslime vereinigt euch für die Synagoge in Pittsburgh“ für die Hinterbliebenen und Geschädigten durchführten.[7]

Beispiele dieser Art relativieren das zum Klischee verkommene Bild eines tief sitzenden jüdisch-islamischen Konflikts, indem sie zeigen, dass es seit langer Zeit schon eine vielfältige jüdisch-islamische Zusammenarbeit gibt.

So wird auch verdeutlicht, dass es selbstverständlicher Teil muslimischer Identität sein kann, sich gegen Antisemitismus und ähnliche Haltungen zu positionieren, so wie sich auch zahlreiche Nichtmusliminnen und Nichtmuslime engagiert gegen Islamfeindlichkeit einsetzen. Entscheidend ist hier die glaubhafte Pluralisierung der gängigen Narrative: So können auch ohne voraussetzungsreiche Herleitungsversuche aus Geschichte und Theologie die aktuellen polarisierenden Konfliktnarrative durchbrochen und durch attraktivere Wertschätzungs- und Kooperationsnarrative ersetzt werden.

3. Unterrichtlicher Fokus insbesondere für die Religionsfächer und Ethik: Islam und Judentum

3.1 Problematische Islamverständnisse kontextualisieren und relativieren

Sowohl der öffentliche als auch der Unterrichtsdiskurs zahlreicher Fächer kennen den Islam als ein mit Kontroversen und Problemphänomenen assoziiertes Thema. Muslimische Lernende erleben sich dabei oft in einer belastenden und kontraproduktiven Defensivsituation, da selbst für die meisten nicht religiösen unter ihnen Begriffe wie „Islam“ und „Muslim“ Identifikationsbegriffe darstellen. Gleichzeitig riskiert die Problemfokussierung auf den Islam, bei den anderen Schülerinnen und Schülern Negativklischees und Vorurteile zu fördern. Beide Phänomene können die unterrichtliche bzw. pädagogische Bearbeitung und Kontextualisierung von Antisemitismus im muslimischen Kontext massiv erschweren. Jeglicher gesellschaftspolitische Diskurs (nicht nur) zum Islam sollte daher zunächst durch den Hinweis auf Islamverständnisse pluralisiert werden, um anschließend problematische Islamverständnisse – also auch jene im nicht muslimischen Diskurs konstruierten – relativieren zu können, noch ehe sie von den Lernenden als Aussagen über den „eigentlichen“ Islam missverstanden werden. Dies kann geschehen, indem beispielsweise darauf hingewiesen wird, dass…

  • die Juden den überwiegenden Teil in der islamischen Geschichte als tolerierte Minderheit friedlich in den islamischen Reichen lebten,[8]
  • der moderne Antisemitismus in der islamischen Welt einen wichtigen Teil seiner Motive nicht den islamischen Quellen, sondern dem europäischen Antisemitismus entnommen hat,
  • zahlreiche Musliminnen und Muslime Jüdinnen und Juden zur Flucht vor den Nazis verhalfen,
  • Selbstmordattentate ihren Weg in den Nahostkonflikt über den Weg nicht religiöser linksextremistischer Gruppen fanden und erst ab den 80ern von einzelnen islamischen Gelehrten fatalerweise religiös legitimiert wurden[9] – dies stellt eine deutliche Abwendung von der islamischen Tradition dar, die Selbstmordattentate ebenso ablehnt wie die Mehrheit der Musliminnen und Muslime heute weiterhin,
  • die in den klassischen islamischen Quellen (vor allem in der Sira-Literatur) überlieferten militärischen Konflikte des Propheten Muhammad mit den Juden von Medina keine Folge der religiösen Differenz waren, sondern von den Quellen „profanen“ Ursachen zugeschrieben werden (Friedensvertragsbruch durch die Gegenseite, Kooperation mit den mekkanischen Vertreibern der Muslime, Mordversuch am Propheten u. a.), sodass diese Konflikte nicht universalisierbar sind[10] – auch gab es laut den islamischen Quellen nie einen vollständigen Bruch des Propheten mit allen Juden auf der arabischen Halbinsel, sondern nur mit bestimmten,
  • neuere historisch-kritische Quellenstudien nahelegen, dass die Überlieferungen, laut denen der Prophet einen der vertragsbrüchigen jüdischen Stämme (die Banu Qurayza) vernichten ließ, eine spätere Übertreibung sein könnten,[11] wie historisch-kritische Forschung sie auch bei einigen Kriegsberichten des Alten Testaments vermutet,
  • laut der exegetischen Tradition des Islam die meisten, stellenweise polemischen Passagen des Korans über Juden nicht die Jüdinnen und Juden per se betreffen, sondern Auseinandersetzungen mit konkreten Adressaten auf der arabischen Halbinsel darstellen und daher nicht universalisierbar sind,
  • der Koran auch nach den bereits zurückliegenden Konflikten mit jüdischen Stämmen in einer seiner chronologisch jüngsten Suren ausdrücklich sowohl die Tafelgemeinschaft mit Juden (und Christen) als auch islamisch-jüdische Eheschließungen gebilligt hat (Sure 5, Vers 5) – dieses Votum des Korans widerlegt den pauschalen Antisemitismusverdacht gegen den Islam und wiegt theologisch stärker als andere außerkoranische Überlieferungen, die von einem dauerhaften Konflikt auszugehen scheinen.

Dass derartige Differenzierungen eine präventive Wirkung gegen Antisemitismus haben können, legt folgende Aussage einer muslimischen Siebtklässlerin im Fach Islamische Religionslehre nahe. Bei einem Unterrichtsbesuch durch den Autor in der Stunde eines Referendars zum Thema „Hat der Islam etwas gegen Juden?“ fasste sie das Ergebnis der Stunde, die die Vertreibung bestimmter Juden zur Prophetenzeit thematisierte, sinngemäß mit den Worten zusammen:

„Ich habe heute gelernt, dass der Judenhass, den ich manchmal in meinem Umfeld höre, unbegründet ist und von einem Missverständnis kommt. Die Vertreibung mancher Juden zu Zeiten des Propheten hatte überhaupt nichts mit deren Religion zu tun, sondern nur mit deren feindlichem Verhalten. Wären das feindliche Muslime gewesen, wären sie genauso vertrieben worden.“

3.2 Gemeinsamkeiten von islamischer und jüdischer Religion und traditioneller Lebensweise

Gerade in den Religionslehren und im Fach Ethik kann hier auf folgende Gemeinsamkeiten der jeweiligen religiösen Traditionen hingewiesen werden:

a) Einander entsprechender Friedensgruß: Salam und Shalom

Das Arabische und das Hebräische sind die Ursprungssprachen von Islam und Judentum. Sie gehören beide zur semitischen Sprachfamilie und sind damit eng verwandt. Zusammen mit der engen theologischen Verwandtschaft von Islam und Judentum erklärt dies, warum zahlreiche Sprechweisen in den beiden Religionen auch heute noch sehr ähnlich sind. So lauten die arabischen und hebräischen Begriffe für „Frieden“ jeweils Salam bzw. Shalom. Der daraus gebildete traditionelle Friedensgruß („Friede sei mit euch“) unter Muslimen lautet im Arabischen „as-salamu alaikum“ und die Antwort darauf „wa alaikumu s-salam“ („Und mit euch sei Frieden“). Der traditionelle Friedensgruß auf Hebräisch lautet nahezu identisch „shalom aleichem“, und die Antwort darauf „aleichem shalom“. Die dem Arabischen entlehnte Fassung auf Türkisch lautet: „selamun aleyküm“ – „aleyküm selam“. Mit diesem Hintergrundwissen wird auch ein erweiterter und inklusiver Blick auf Texte von hebräischen Liedern wie „Shalom Chaverim“ und „Shalom Aleichem“ möglich, wenn sie beispielsweise im Musikunterricht oder in Schulkonzerten gesungen werden.

b) Entsprechungen in der religiösen Praxis

Gemeinsam ist Muslimen und Juden auch die Selbstverständlichkeit religiöser Gebote, wobei diese natürlich nicht von jedem gleichermaßen interpretiert oder befolgt werden. In beiden Religionen gibt es traditionell Gebote mit teils rein pragmatischen Zwecken, aber auch Gebote, die auf Gehorsam und Demut gegenüber Gott ausgerichtet sind. Beide Religionen kennen das Konzept des religiös Erlaubten (halal und kosher), bestimmte Schlachtriten, ein Schweinefleischverbot, die Beschneidung von Jungen, tägliche Gebetszeiten in Abhängigkeit vom Sonnenstand sowie das hörbare Rezitieren der heiligen Schrift in ihrer Originalsprache. Beide Religionen kennen traditionelle Bereiche der Geschlechtertrennung, wie etwa im Gottesdienst, wobei in beiden Religionen heute darüber debattiert wird, was davon bleibendes Gebot ist und was nur aus Rücksicht auf historisch-kulturelle Gegebenheiten eingeführt wurde, die nicht mehr und nicht überall relevant sind. In beiden Religionen wird das Verbot, Gott bildlich darzustellen, strikt eingehalten.

c) Entsprechungen in den Bezeichnungen Gottes

Die im Islam allgegenwärtigen Gottesnamen Rahman und Rahim bedeuten je etwa „der Gnädige“ und „der Barmherzige“. Die hebräischen Entsprechungen dazu lauten Rahaman und Rahum.[12] Eng verwandt miteinander sind auch in den zentralen Gebeten auftretende Gottesnamen bzw. -be­zeichnungen wie „der König“ (arab.: Malik/hebr.: Melech), „der Lebendige“ (Hayy/Hay), „der Beständige“ (Qayyum/Qayyam) „der Heilige“ (Quddus/Qadosh), „der Erschaffer“ (Bari/Bore)‚ „der Treue“ (Muhaymin/Meheman) und „der Weise“ (Hakim/Hacham).

Der zentrale Name „Allah“ für den einen Gott im Islam, der vermutlich eine Zusammensetzung aus „al-ilah“ (der eine Gott) darstellt, kennt im Hebräischen die etymologisch damit verwandten Bezeichnungen für Gott Elaha und Eloah. Das arabische Allahumma als koranische Anrede Gottes könnte ebenfalls mit der jüdischen Gottesbezeichnung Elohim verwandt sein.

Der Islam kennt ferner die Sakina als einen Zustand des Seelenfriedens im Gläubigen, der von Gott geschenkt wird. Dem entspricht die Schechina im Judentum, was die Frieden spendende Gegenwart Gottes meint.


Fußnoten

[1] Vgl. Turan, Hakan: „Vier Vorschläge für eine identitätssensible Kommunikation mit muslimischen Schülerinnen und Schülern im Unterricht.“ In: Landesinstitut für Schulentwicklung/Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg/Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hrsg.): Jugendliche im Fokus salafistischer Propaganda – Beispiele und Anregungen für die unterrichtliche und pädagogische Praxis – Teilband 2.1, Stuttgart, 2017: S. 86-93. Online unter: www.lpb-bw.de/fileadmin/lpb_hauptportal/pdf/publikationen/salafismus_bd1_2.pdf; letzter Zugriff am 20.11.2018.

[2] Zur Schwierigkeit und Notwendigkeit solcher Unterscheidungen im öffentlichen Diskurs ausführlich Floris Biskamp: „Orientalismus und demokratische Öffentlichkeit – antimuslimischer Rassismus aus Sicht postkolonialer und neuer kritischer Theorie.“ Bielefeld, 2016.

[3] Detaillierte Ausführungen zur Intervention bei antisemitischen Fällen in der Schule finden sich im Kapitel 4.9. dieser Handreichung.

[4] Zentralrat der Juden. Online unter: www.zentralratderjuden.de/aktuelle-meldung/der-latente-antisemitismus-ist-hoch/; letzter Zugriff am 20.11.2018 und Welt Online, unter: www.welt.de/politik/deutschland/article135582589/Verunglimpfung-des-Islam-ist-absolut-inakzeptabel.html; letzter Zugriff am 20.11.2018.

[5] Welt online. Online unter: www.welt.de/politik/deutschland/article182957674/Angela-Merkel-Wenn-Kinder-als-Juden-beschimpft-werden-muss-die-Schule-sofort-reagieren.html; letzter Zugriff am 20.11.2018.

[6] Als Beispiele können hier die trialogische Stiftung Stuttgarter Lehrhaus sowie die Neuköllner Salaam-Shalom-Initiative genannt werden.

[7] T-Online. Online unter: www.t-online.de/nachrichten/panorama/kriminalitaet/id_84699028/nach-synagogen-anschlag-in-pittsburg-muslime-spenden-180-000-an-opfer.html; letzter Zugriff am 20.11.2018.

[8] Zur Vertiefung dieses und anderer in diesem Beitrag genannten pädagogisch einsetzbarer Beispiele vgl. Murtaza, Muhammad Sameer: „Schalom und Salam – Wider den islamisch verbrämten Antisemitismus.“ Frankfurt a. M., 2018.

[9] Vgl. Schneiders, Thorsten Gerald: „Heute sprenge ich mich in die Luft – Suizidanschläge im israelisch-palästinensischen Konflikt.“ Berlin, 2006: S. 58 ff.

[10] Ausführlich dazu Turan, Hakan: „Von den militärischen Konflikten des Propheten mit den Juden von Medina.“ In: Erdal Toprakyaran u. a. (Hrsg.): Muhammad – Ein Prophet – viele Facetten. Berlin, 2014: S. 195-230. Online unter: http://blog.andalusian.de/der-konflikt-des-propheten-mit-den-juden-von-medina-volltext/ ; letzter Zugriff am 20.11.2018. Zur Problematik verkürzter Darstellungen in Schulmaterial T-Online Artikel a. a. O.

[11] Ausführlich zu den Ansätzen ebd.: S. 208-225.

[12] Zu den arabischen und hebräischen Entsprechungen in den Gottesbezeichnungen: Anthony Patrick Brooks: „Wie heißt dein Gott? Zu den Namen und Attributen und Namen Gottes in Judentum und Islam.“(Vortragsskript), S. 3-4. Online unter: www.haus-abraham.de/images/pdfs/2016-01-17_Vortrag_Haus_Abraham_Brooks.pdf; letzter Zugriff am 20.11.2018. Zur besseren Lesbarkeit wurden im hiesigen Text die bestimmten Artikel sowie detaillierte Transliterationen, die der exakten Aussprache des Arabischen und Hebräischen dienen, weggelassen.