Der erfolgreiche Umgang mit muslimischen Schülern stellt einen ebenso herausfordernden wie spannenden Bereich pädagogischen Handelns und Reflektierens dar. Die Vorbereitung von Lehrkräften auf die gemischt kulturelle Situation im Klassenzimmer ist jedoch gerade im Bereich der Gymnasien defizitär. Diese Situation erschwert Lehrern unter anderem eine realistische Einschätzung der tatsächlich gegebenen soziokulturellen und sozialpsychologischen Voraussetzungen muslimischer Schüler, was im ungünstigsten Fall zu einer scheiternden Kommunikation und einem Nichtausschöpfen vorhandenen Potenzials führen kann. Dabei ist speziell im gymnasialen Bereich mit dem Wegfall der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung in Baden-Württemberg im Jahr 2012 mit einer Zunahme von muslimischen Schülerinnen und Schülern am Gymnasium zu rechnen. So besuchten nach Angaben des Mikrozensus im Jahr 2010 23 % der türkischstämmigen Schüler in Baden-Württemberg das Gymnasium, während dieser Anteil bei Schülern mit früherer oder aktueller EU-Staatsangehörigkeit bei 40 % und bei Deutschen ohne Migrationshintergrund bei 49 % lag (Statistisches Landesamt 2012).

Der inhaltliche Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf dem Aspekt der gelingenden Verständigung zwischen Lehrkraft und muslimischen Schülern in Kommunikationssituationen mit potenziellem Kulturbezug. Die meisten der hier dargestellten Überlegungen lassen sich ohne große Abstriche auch auf Schüler aus anderen ethnischen Minderheiten übertragen. Jedoch soll aufgrund der zunehmenden Bedeutung des Themas der Fokus eng gehalten werden.

Inhalt

1. Gemischte kulturelle Identitäten
2. Problematische Präkonzepte von Lehrkräften bezüglich muslimischer Schüler
2.1 Der kulturalistische Kurzschluss
2.2 Der globale Macho
2.3 Das unterdrückte türkische Mädchen
2.4 Wertehaltungen von Kopftuchträgerinnen
3. Weitere soziokulturelle Voraussetzungen muslimischer Jugendlicher
3.1 Migrationshintergrund
3.2 Religiosität
3.2.1 Sechs Dimensionen von Religiosität (Religionsmonitor 2008)
3.2.2 Ergebnisse zu muslimischer Religiosität
3.2.3 Religion und Diskriminierungserfahrungen
4. Epilog: Bedingungen eines aufgeklärten Multikulturalismus
Literatur

1.     Gemischte kulturelle Identitäten

Die Kernthese dieses Beitrags lautet: „Muslimische Schüler verfügen über gemischte kulturelle Identitäten“ (Holzwarth 2007:52f). Für das Folgende erweist es sich als fruchtbar, diese als aus drei Polen zusammengesetzt zu denken, nämlich (1) aus der kulturellen Prägung der deutschen Mehrheitsgesellschaft, (2) der durch Familie und Umfeld vermittelten Kultur und Tradition der ursprünglichen Herkunftsregion der Eltern und (3) dem Einfluss eines bestimmten Islamverständnisses. Man kann die in Deutschland am häufigsten anzutreffende kulturelle Signatur von Muslimen als deutsch-türkisch-islamische Identität bzw. Kultur oder Subkultur bezeichnen. Wenn man nach innen genauer differenziert, stößt man z. B. auch auf deutsch-türkisch-alevitische oder deutsch-türkisch-säkulare Identitäten. Differenziert man nach außen, findet man z. B. deutsch-irakisch-turkmenisch-schiitische Identitäten. Diese Vielfalt erfordert eine gewisse Bescheidung im Anspruch, kulturelle oder religiöse Hintergründe umfassend begreifen zu wollen.

Nachhaltiger ist der Versuch die individuelle Struktur zu verstehen. So ist der Begriff einer deutsch-türkisch-islamischen Identität oder Kultur kein Etikett einer homogenen Gruppe, sondern die Benennung bestimmter Sozialisationsbedingungen, die durch die Einflüsse der drei Pole bestimmt ist. Wie das Individuum auf dieses multikulturelle Medium reagiert, wie es sich darin entwickelt und welche Vereinbarungs- und Abgrenzungsstrategien es hervorbringt, ist individuell höchst verschieden und hängt stark vom Maß der gefühlten Freiheit ab, dass die kulturellen Umfelder, deren gleichzeitiger Teil das Individuum ist, ihm geben. Neben diesem Maß der gefühlten Freiheit sind insbesondere auch die Identifikationsangebote relevant, die ihnen die kulturellen Umfelder machen: Bieten sie ihm eindimensionale Rollenbilder an? Oder gestatten sie ihm originelle und authentische Positionierungen, autonom verantwortet im Kraftfeld der ursprünglich teils gegensätzlichen Kulturen? Es ist allein letzterer Zugang, der diesen Jugendlichen vor dem Hintergrund ihrer gemischt kulturellen Voraussetzungen die Perspektive einer selbstbestimmten und mündigen Selbstverortung eröffnet, zu der Schule erziehen soll. Das Erstere hingegen bedeutet eine künstliche Abgrenzung und Verengung der Diskurssituation durch eine Verpflichtung zu Alles-oder-Nichts-Entscheidungen.

Konkret bedeutet dies, diese Schüler nicht mit Fragen der Form „Wie ist das denn bei euch Türken/Muslimen?“ zu konfrontieren, sondern eher mit „Weißt du, wie das bei türkischen Familien ist?“. Nicht: „Welcher Kultur fühlst du dich zugehörig?“, sondern „Was hat dich in den beiden Kulturen geprägt?“. Nicht: „Bist du eher religiös, oder eher modern?“, sondern „Du hast eine religiöse und zugleich moderne Haltung – wie machst/vereinbarst du das?“

Streng genommen verbietet dieses Konzept eine Rede von „muslimischen Schülern“, da diese Formulierung die Jugendlichen a priori entlang von Religionsgrenzen spaltet, wo diese doch neben ihrer religiösen Identität noch zahlreiche andere Teilidentitäten haben. Genauer müsste es daher heißen deutsch-türkisch-muslimische Jugendliche, was selbst aber auch schon wieder zu pauschalisierend ist, um damit die Verfasstheit des gesamten Individuums zu umschreiben. Es führt kein Weg daran vorbei: Lehrkräfte haben es nicht mit Vertretern klar definierter Kulturen, oder gar pauschal „fremder“ Kulturen zu tun, sondern mit Individuen, die auf sehr unterschiedliche Weise auf ihren täglichen Wanderungen zwischen den teils gegensätzlichen kulturellen Räumen, also den „fremden“ und „heimischen“ Kulturelementen um sie herum reagieren. Einzig zur Vereinfachung der Rede ist in diesem Beitrag dennoch von muslimischen Jugendlichen die Rede, da untersucht werden soll, welche (immer nur sozial konstruierten) Konsequenzen der Unterschied in der Religionszugehörigkeit mit sich bringt.

Ein Dreierschema wie deutsch-türkisch-islamisch trägt sowohl der zweifachen kulturellen Eingebundenheit dieser Schüler Rechnung als auch der verhältnismäßig großen Rolle, die Religion für sie spielt. Letztere fällt gerade unter den Bedingungen der Minderheitensituation meist nicht mehr mit den Traditionen der Herkunftskultur zusammen, sondern weist eine eigene Dynamik auf. Natürlich sind diese drei Pole in sich wiederum das Ergebnis langer historischer Prozesse, was zwangsläufig wieder zu selbstverständlicher innerer Vielfalt und Spannung führt. Identifizierbar wird ein Pol also nicht durch einen abgeschlossenen Normen- und Wertekanon, sondern durch Art und Ort seiner Normen- und Wertegenese, z. B. über lokal tradierte Sitten und Bräuche, oder über die theoretische Gelehrtentradition. Natürlich beeinflussen sich diese Pole gegenseitig, aber werden nie deckungsgleich miteinander.

Diese drei kulturellen Bestandteile stehen bisweilen in Spannung zueinander und müssen vom Individuum beständig zu einem funktionierenden System von Handlungs- und Deutungsmustern verarbeitet werden. In der Regel erfolgt diese Synthese unbewusst und folgt pragmatischen Gesichtspunkten. Muslimische Jugendliche in Deutschland sind dabei nicht nur kulturelle Mischlinge hinsichtlich Sprache und Verhalten, sondern insbesondere auch hinsichtlich von Denkweisen, Wertevorstellungen und dem Aufstellen subjektiver Theorien von sich selbst und der Welt. Dieser kognitive Aspekt überfordert die meisten Jugendlichen und zwingt sie oft zu einem nicht weiter verstehbaren Pragmatismus, zu einem Spagat zwischen den Kulturen.

Ein Bildungsziel der Schule sollte es sein diesen Jugendlichen fundierte Reflexionen über ihre eigenen kulturellen Prägungen zu ermöglichen, damit sie sich produktiv mit diesen auseinandersetzen zu können. Dies erfordert nicht nur ausgeprägte kognitive und hermeneutische Kompetenzen, sondern auch ein wissenschaftlich belastbares Faktenwissen über Geschichte, Tradition und Religion, an das muslimische Schüler anknüpfen können, um die sich ihnen darbietende widersprüchlich anmutende Welt in einem kohärenten Zusammenhang denken und entsprechend darin leben zu können.

2.    Problematische Präkonzepte von Lehrkräften
bezüglich muslimischer Schüler

Die kommenden Punkte stellen einen Querschnitt aus Gesprächen des Autors mit Lehrern und Schülern unterschiedlicher Jahrgangsstufen und Schularten mit einem Schwerpunkt auf städtischen Gymnasien in Stuttgart dar.

2.1 Der kulturalistische Kurzschluss

Eine häufige Strategie, das Verhalten oder eine ungewöhnliche Meinungsäußerung eines muslimischen Schülers zu deuten, besteht darin, es zu kulturalisieren, d. h. als seine Ursache die kulturelle oder auch religiöse Identität des Schülers anzunehmen (Seibelhofer 2008:39ff). Demnach sind es nicht etwa ein natürlicher Situationskontext, äußere Umstände, gute Gründe, das Alter oder der Einfluss eines Nebensitzers, sondern es ist explizit die Kultur- bzw. Religionszugehörigkeit des Schülers, die ein Verhalten erklären, oder zur Vorhersage von wahrscheinlichen Reaktionen dienen soll.

So fragte eine Lehrerin den Autor um Rat, da die Klassenkonferenz gerne den Kontakt zur Familie des problematischen Schülers Hasan herstellen und sich als Vermittler zunächst an die ältere Schwester an derselben Schule richten wollte. Allerdings sei die Lehrerin dabei unsicher geworden, denn sie hatte gehört, „dass es bei den Muselmanen so sei, dass Brüder auch über ihre älteren Schwestern bestimmen würden“. Darum wäre es vielleicht nutzlos, oder gar riskant die Familie des Schülers über die Schwester anzusprechen. Offensichtlich ging diese Überlegung (a) vom Konzept einer homogenen islamischen Kultur aus, die zudem außerordentlich patriarchalisch ist, und (b) dass alle Muslime sich konsequent nach diesem kulturellen Schema richten. Der kulturalistische Kurzschluss ist also eigentlich nur ein logischer Kurzschluss von zwei falschen Prämissen, nämlich einem Homogenitätspostulat und einer Automatismusannahme. Beide sind weder empirisch, noch vor dem Hintergrund unseres Wissens von Sozialisationsprozessen haltbar. Zu bestreiten ist dabei nicht, dass patriarchale Denkformen in der islamischen Welt ein auch von religiösen Muslimen zunehmend thematisiertes Problem darstellen, und dass es stark patriarchal strukturierte muslimische Familien auch in Deutschland gibt. Falsch ist lediglich die Annahme, dass im Wesentlichen alle muslimischen Familien quasi als kollektives Wesensmerkmal der „Muselmanen“ in für den Einzelfall vorhersagbarer Weise streng patriarchalisch strukturiert sind, oder allein schon eine absolute Mehrheit von ihnen. Letztlich wurde das Gespräch mit der Schwester durchgeführt und die Lehrerin wurde in ihrer Befürchtung nicht bestätigt.

Im Extremfall kann Kulturalisierung auch zu absurden Situationsverläufen führen, wie beim türkischstämmigen Fünftklässler Fatih, der in der Pause mit den Mädchen rennend Fangen spielte und dabei offensichtlich von der Lehrkraft kritisch beäugt wurde. Vor versammelter Klasse erklärte die Lehrerin anschließend, dass sie sah, wie Fatih die Mädchen geschlagen hat, und dass er sich ein solches Verhalten in der Türkei, nicht jedoch in Deutschland leisten könne, worauf Fatih weinte. Nach der Stunde gingen die Mädchen geschlossen zur Lehrerin und erklärten ihr die Situation, worauf sich die Lehrerin wiederum vor der Klasse bei Fatih entschuldigte.

Wie man sieht, ist der Kulturalismus nicht einfach ein interkulturelles Missverstehen, sondern ein Deutungsprinzip, das die Komplexität der Wirklichkeit auf eine einzige Dimension reduziert. Der Kulturalist schreibt sich die Kompetenz zu, souverän über diese einzige Dimension urteilen zu können. Während der Kulturalismus ein in der Öffentlichkeit weitverbreitetes Schema darstellt, findet er in den Sozialwissenschaften keinen Rückhalt. In der Schule stößt man auf ihn vor allem dort, wo aufseiten der Lehrkraft große Unsicherheiten beim Umgang mit neuartigen Situationen auftreten. Ein kritischer Umgang mit eigenen Deutungen und der Mut, im Zweiergespräch mit dem Schüler eigene Fragen und Unsicherheiten anzusprechen, kann eventuell Abhilfe schaffen.

2.2 Der globale Macho

Verbreitet ist auch das Phänomen, muslimischen Jungen prinzipiell eine Frauen missachtende Machohaltung zu unterstellen oder ein solches Verhalten zu erwarten. Nun ist nicht abzustreiten, dass patriarchale Erziehungsverhältnisse bei einem Teil muslimischer Jugendlicher in der Tat zu einer solchen Haltung führen. Es ist eine der Aufgaben der Schule, hier Partei für die Gleichberechtigung der Geschlechter zu ergreifen und dies auch unmissverständlich zu artikulieren. Allerdings darf dies nicht zum Preis einer Abgrenzung „deutscher“ Kultur von „türkischer“ oder „muslimischer“ erfolgen, da dies Kulturen zu homogenen und sich gegenseitig ausschließenden Gebilden erklärt, was wiederum eine empirisch nicht haltbare These darstellt.

Denn zum einen werden die meisten muslimischen Jungen keine Machohaltung gegenüber einer weiblichen Lehrkraft an den Tag legen. Diese werden von manchen Lehrkräften in ihren frauenfreundlichen Seiten oftmals gar nicht mehr als Türken wahrgenommen. So erklärte eine Referentin in einer Fortbildung, dass Unterricht bisweilen eine kultursensible Sache sei, z. B. wenn eine Lehrerin türkische Jungen im Unterricht habe, und diese die Lehrerin nicht ernst nehmen. Auf die Rückfrage, ob sie selbst mit türkischstämmigen Schülern derartige Erfahrungen gemacht hat, entgegnete sie, dass sie zwei türkische Jungen in ihrer Klasse hat, die absolut vorbildlich in ihrem Verhalten seien. Offensichtlich hatte diese Erfahrung nicht gereicht, um ihre Darstellung vom erwarteten Machoverhalten explizit zu relativieren. Es wäre derweil auch nicht weiterführend zu behaupten, dass muslimische Jungen an sich keine Machos seien. Wichtig wäre es festzuhalten, dass manche von ihnen ein solches Verhalten an den Tag legen, andere wiederum nicht.

Es kann auch nicht pauschal behauptet werden, dass Machos religiöser seien als die anderen Muslime. Erfahrungen bestätigen, dass Jungen, die einerseits das traditionskonforme Verhalten ihrer Schwestern kontrollieren, selbst oftmals nicht nach den für sie theoretisch geltenden Regeln leben. Hier wird viel mehr ein spezielles kulturelles Muster adaptiert, das im Sozialisationsraum des Jungen offensichtlich prägend war, für das die klassische religiöse Theorie jedoch keine Rechtfertigung liefert.

2.3 Das unterdrückte türkische Mädchen

Der Migrationsforscher Halil Uslucan stellt in einer Studie zur Erziehung in türkischen Familien in Berlin fest, dass türkische Eltern von ihren Töchtern zwar ein äußerlich disziplinierteres Verhalten abverlangen, aber dass es insgesamt die Jungen sind, die unter ungünstigeren Bedingungen aufwachsen, da sie von ihren Eltern weniger Unterstützung erhalten und auch mehr Strenge erfahren (Uslucan 2008:14). Zum Unterschied in den Erziehungszielen sagt Uslucan:

„Bei deutschen Eltern ist – im Vergleich zu türkischen Eltern – die Dominanz von Selbstständigkeit, Lern- und Leistungsbereitschaft der Kinder sowie die geringere Relevanz der Erziehung zum christlichen Glauben auffällig.“ (Uslucan 2008:17)

Diese Voraussetzungen sind zu berücksichtigen, wenn an der Schule Jugendliche aus diesem Milieu zu selbstständigem Arbeiten erzogen werden sollen. Vielleicht ist das unterschiedliche Autoritätsverständnis an Schule und in der Familie überhaupt einer der zentralen Schlüssel zur Analyse von Lernschwierigkeiten muslimischer Jugendlicher. Aber wie gehen insbesondere Mädchen mit den teils strengeren Regeln um, die für sie gelten? Dies soll hier am Beispiel von Kopftuchträgerinnen dargestellt werden.

2.4 Wertehaltungen von Kopftuchträgerinnen

Laut der Studie „Religionsmonitor 2008“ der Bertelsmann Stiftung (Rieger et. al.: 2008) befürworten 38 % Prozent der Frauen das Tragen eines Kopftuchs. Bei den muslimischen Männern sind es weniger, nämlich 28 % (Blume 2008:47). Dies weist darauf hin, dass es eher religiöse Frauen als Männer sind, für die das Kopftuch eine wichtige Rolle spielt (Blume 2008:47). Bestätigt wird das auch in einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (Jessen/Wilamowitz-Moellendorff 2006), für die 315 türkischstämmige Kopftuchträgerinnen von 18 bis 40 Jahren in vier muslimischen Gemeinden in Deutschland befragt wurden. Aufgrund der Auswahlkriterien ist diese Studie im statistischen Sinn nicht repräsentativ. Andererseits erlaubt die gezielte Auswahl religiöser Kreise durchaus, eine Relevanz der Ergebnisse für andere Kreise anzunehmen.

Demnach spielte der Vater in nur einem Viertel der Fälle, der Ehemann in 10 % und der Bruder in 4 % eine Rolle bei der Entscheidung für das Kopftuch. Der Haupteinfluss ging mit 40 % von der Mutter aus (Jessen/
Wilamowitz-Moellendorff 2006:25). Insgesamt wird das Bild des von Männern der Familie zum Kopftuch genötigten Mädchens nicht bestätigt, der Eindruck einer eigenen Entscheidung überwiegt. Getragen wird das Kopftuch ferner, weil es als ein religiöses Gebot gesehen wird (95 %) und weil es Selbstvertrauen gibt (87 %) (Jessen/Wilamowitz-Moellendorff 2006:25:24). Es geht also nicht um ein Bekenntnis zum politischen Islam und auch nicht um Provokation.

Mindestens so wichtig wie die Nennung der subjektiven Gründe ist jedoch die Feststellung, dass in den Familien dieser Mädchen fast alle anderen Frauen ebenfalls ein Kopftuch trugen (Jessen/Wilamowitz-Moellendorff 2006:26). Das würde bedeuten, dass in religiösen Umfeldern, in denen die Frauen tendenziell kein Kopftuch tragen, auch eine Entscheidung für das Kopftuch seltener ist. In der Tat bestätigt die Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“, dass von den Mädchen, die sich als sehr religiös verstehen, nur die Hälfte ein Kopftuch trägt (Haug/Müssig/Stichs 2009:201). Das Tragen oder Nichttragen des Kopftuchs ist wiederum nicht identisch mit der Meinung, die die Person von der theoretischen Verbindlichkeit des Kopftuchs hat. So meinen manche kein Kopftuch tragende religiöse Mädchen, dass das Kopftuch zwar ein Gebot sei, aber streben dessen Umsetzung aus anderen persönlichen Gründen nicht an.

Die genannten Konstellationen deuten darauf hin, dass es weniger die Auseinandersetzung mit praktischen Gründen oder Ängsten vor Männerblicken sind, als viel mehr die normativen Selbstverständlichkeiten des sozialen Kontextes, die die Wahrscheinlichkeit einer Entscheidung für das Kopftuch vergrößern. Darum kann davon ausgegangen werden, dass verbreitete und heftig diskutierte Begründungen wie „Ich trage das Kopftuch um keine fremden Männer zu provozieren“ oftmals eher nachträgliche und dem säkularen Gesprächspartner, der sich mit bloßem Verweis auf Religion und Umfeld nicht zufriedengeben würde, angepasste Erklärungen darstellen. Wenn es also keine systematische patriarchale Ideologie ist, die Kopftuchträgerinnen mit ihrer Bekleidung symbolisieren wollen, dann sollten sich unter dem Kopftuch auch eine Reihe nicht patriarchaler Wertevorstellungen finden lassen. In der Tat finden sich verblüffende Parallelen in den Wertevorstellungen von Kopftuchträgerinnen mit deutschen Frauen, wie die Zustimmungsrate zu folgenden Sätzen zeigt. Diese Absage an das Patriarchat ist zugleich ein beeindruckendes Beispiel für eine Synthese traditioneller und moderner Kulturelemente.

Aussage Kopftuch tragender FrauenBejahung
In einer Ehe/Partnerschaft ist es heute wichtig, dass sich auch die Frau ihre beruflichen Wünsche erfüllen kann.94 %  
In einer Ehe soll es bei dem, was der Mann oder die Frau für Haushalt und Familie tun, keine prinzipiellen Unterschiede geben.81 %  
Wenn es bei Meinungsverschiedenheiten zwischen (Ehe)-partnern nicht zu einer Einigung kommen kann, sollte die Frau nachgeben und dem Mann das letzte Wort lassen.23 %

Tab. 1 nach Jessen/Wilamowitz-Moellendorff (2006:34).

2.4 Zusammenfassung: Wie kommunizieren?

Es folgen nun Vorschläge zum Diskursmodus im Unterrichtskontext, in dem der Islam oder die Herkunftskultur von Schülern thematisiert werden soll (vgl. Turan 2010:225):

(1) Differenzierung: Gerade bei der Diskussion heikler Themen sollte nicht pauschal über „die Muslime“ oder „die Araber“ gesprochen werden, sondern über eine überschaubare Anzahl von Menschen, die einer bestimmten Tradition folgen, die andere Muslime jedoch eventuell ganz anders sehen. Differenzierung erlaubt z. B. restriktive Gesetze in islamischen Staaten zu kritisieren ohne pauschal die Muslime, oder „den“ Islam als Ganzes zu verurteilen

(2) Zusätzlich sollte die Lehrkraft die Vorläufigkeit ihrer eigenen Sichtweise verdeutlichen, z. B. indem sie zu bedenken gibt, dass sie sich auf diesem Gebiet zu wenig auskennt, und dass sie nicht weiß, inwieweit z. B. ein Zeitungsbericht verallgemeinerbar ist. Dies lädt zum Diskurs ein und die Lehrkraft tritt nicht als Autorität zum Thema Islam auf.

(3) Antizipation der Betroffenheit des Schülers: Man kann davon ausgehen, dass bei jeder Thematisierung islamischer oder z. B. türkischer Kultur die Betroffenen hellhörig werden, da es nun um Aspekte ihrer eigenen Identität geht. Immerhin befinden sie sich in einer Minderheitenposition und ihr kultureller Hintergrund ist an der Schule sehr selten Thema. Darum ist es manchmal vielleicht sinnvoll, betroffenen Schülern vor dem Unterricht zu erklären, um was es gehen soll, und ob sie eventuell auch etwas zum Thema beitragen möchten.

(4) Primat der Beziehung vor der Sache: Wenn es im Unterricht um ein brisantes Thema geht, das das Selbstbild von Schüler berührt, dann sollte umso mehr darauf geachtet werden zuvor ein positives Wir-Gefühl zu erzeugen, damit die Betroffenen sich nicht in einer Defensivrolle wiederfinden.

3.     Weitere soziokulturelle Voraussetzungen
muslimischer Jugendlicher

Im Folgenden werden nun einige Merkmale diskutiert, die vielen muslimischen Jugendlichen gemeinsam scheinen, die jedoch zugleich auch die Basis ihrer teils drastischen Unterschiede untereinander darstellen.

3.1 Migrationshintergrund

2010 hatten 15,7 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund. Mehr als die Hälfte davon besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft. Menschen mit Migrationshintergrund machen ca. ein Fünftel der Bevölkerung Deutschlands aus (9. Bericht … 2012:23). Nur jeder vierte Bürger mit Migrationshintergrund gehört dabei einer muslimischen Glaubensrichtung an, also ca. 4 Millionen Menschen in Deutschland, was ca. 5 % der Gesamtbevölkerung entspricht (Haug/Müssig/Stichs 2009:80). In Stuttgart ist der muslimische Bevölkerungsanteil mit ca. 10 % doppelt so hoch wie bundesweit (Statistisches Amt Stuttgart 2010:1). Die Stuttgarter Muslime haben dabei ihre Wurzeln in fünfzig verschiedenen Ländern. Da Stuttgart über einen Migrantenanteil von ca. 40 % verfügt (Statistisches Amt Stuttgart 2012:122) stellen die Muslime nur rund ein Viertel der Stuttgarter Bürger mit Migrationshintergrund dar. Hinsichtlich der Bildungsperspektiven stellt dabei insbesondere ihre Häufung auf der Hauptschule (vgl. Einleitung) ein Problem dar, nicht jedoch ihr Gesamtanteil in Stuttgart.

Der muslimische Bevölkerungsanteil ist überwiegend ein Ergebnis der Arbeitsmigration, die 1955 begann und mit der Ölkrise 1973 endete. Der Familienzuzug und –nachwuchs und eine Welle von Kriegsflüchtlingen in den Neunzigern spielten auch eine wichtige Rolle (Bundesinnenministerium:1). Das Ursprungsland der Muslime ist in den meisten Fällen die Türkei (63 %), gefolgt von Südosteuropa (14 %), dem Nahen Osten (8 %), Nordafrika (7 %) und Süd-/Südostasien (4 %) (Haug/Müssig/Stich 2009:96).

3.2 Religiosität

3.2.1 Sechs Dimensionen von Religiosität

Der „Religionsmonitor 2008“ der Bertelsmann Stiftung zeichnet sich durch einen substanziellen Religionsbegriff aus, dem mehrere Dimensionen von Religiosität zugrunde liegen. Hier wurden (1) Interesse an religiösen Themen, (2) Glaubenseinstellungen, (3) öffentliche und (4) private Praxis eigener Religiosität, (5) religiöse Erfahrungen (wie Spiritualität) und (6) Alltagsrelevanz von Religion separat abgefragt und in einen größeren Zusammenhang gestellt. Dies erweist sich gerade für einen differenzierten Umgang mit dem Thema Islam als außerordentlich hilfreich. Diese Aufteilung kann auch im persönlichen Gespräch eine Rolle spielen, ja auch kulturalistischen Kurzschlüssen vorbeugen. So sagt die manchmal anzutreffende religiöse Rhetorik von muslimischen Gesprächsteilnehmern höchstens etwas über ihre Identifikation mit wertbeladenen und identitätsdefinierenden Begriffen wie „Islam“ aus, nicht jedoch, ob dieser Glaube eine messbare Konsequenz für ihre Lebensführung aufweist, wie diese im Einzelnen aussieht und inwieweit diese Person sich mit den Inhalten des Glaubens aktiv befasst. Ferner bedeuten die öffentliche Erkennbarkeit religiöser Symbole oder gar Praktiken ebenfalls nicht zwangsläufig, dass die betreffende Person eine innere Beziehung zum vorgeblich Geglaubten hat. Denn Praktiken und Gewohnheiten können auch allein dem Leben in einer Gemeinschaft und eventuellen Rollenerwartungen geschuldet sein.

Falls im Leben einer Person ein Minimum religiöser Inhalte und Praktiken auszumachen ist, die jedoch nicht die gesamte Persönlichkeit prägen, so spricht der Religionsmonitor von Religiösen. Personen, deren ganze Persönlichkeit, im Erleben, Verhalten und öffentlichen Wirken von Religion beseelt ist, nennt der Religionsmonitor Hochreligiöse. So kann ein Mensch religiös praktizierend oder überzeugt von seiner Religion sein, ohne zu den Hochreligiösen zu zählen, wenn die anderen Dimensionen nicht ausgeprägt sind. Schließlich gibt es noch die Gruppe der Nichtreligiösen, bei denen keine der sechs Dimensionen ausgeprägt ist.

3.2.2 Ergebnisse zu muslimischer Religiosität

Der einfachste und weitreichendste Befund des Religionsmonitors 2008, bei dem bundesweit 2000 repräsentative Muslime über 18 Jahren befragt wurden, lautet, dass Muslime in Deutschland insgesamt merklich religiöser sind als die Gesamtbevölkerung. Während 90 % der Muslime religiös sind, beträgt dieser Anteil in der Gesamtbevölkerung Deutschlands nur 70 %, wobei die Hochreligiösen mitgezählt werden. Noch deutlicher unterscheidet sich der Anteil der Hochreligiösen. Während 41 % der Muslime hochreligiös sind, sind es in der Gesamtbevölkerung nur 18 %. In jedem Fall gehören die Muslime somit zu den religiösesten Bevölkerungsgruppen Deutschlands. Am stärksten ist dabei die Religiosität der Sunniten ausgeprägt, am schwächsten die der Aleviten.

Im Unterschied zur deutschen Gesamtbevölkerung sind die jüngeren Muslime gläubiger als die Seniorengeneration: Während unter letzterer 66 % an Gott und an ein Leben im Jenseits glauben, tun dies unter den Jüngeren
80 %. Auch beten die jüngeren regelmäßiger als die Senioren. 86 % der Muslime essen kein Schweinefleisch, 58 % trinken keinen Alkohol (Rieger et al. 2008: 6-8). An dem Unterschied in der Beachtung dieser Verbote sieht man auch, dass islamische Vorgaben, die in der Theorie weitgehend gleichwertig sind, aufgrund von sozial bedingten Verstärkungsprozessen untereinander eine Priorisierung erfahren, die nicht durch eine theologische Theorie gesteuert wird: Es sind deutsch-türkische Gesellschaftsverhältnisse, die den Einfluss des Islams durch Selektion und Priorisierung mitgestalten.

28 % aller Muslime verrichten die fünf Pflichtgebete, wobei hier der Anteil unter den arabischstämmigen (47 %) deutlich größer ist als unter den türkischstämmigen (26 %). Dies zeigt, dass die religiöse Praxis innerhalb der Muslime einer ethnisch bedingten Streuung unterliegt. (Thielmann 2008:19)

66 % der Muslime geben an religiös erzogen worden zu sein (Rieger et al. 2008:8). Auf jüngere Altersstufen übertragen bedeutet dies, dass der Staat sich im Falle von zwei Dritteln der Muslime einen Erziehungsauftrag mit einer religiös erziehenden muslimischen Familie teilt. Abermals stellt sich die Frage: Wird dies in der Schulpraxis reflektiert? Und reflektieren dies die Eltern? Und was bedeutet diese Situation für die tagtägliche Ausgleichsarbeit, die die muslimischen Schüler leisten müssen?

Interessant sind auch die Befunde zu Wahrheitsansprüchen und Toleranz: Entgegen einem verbreiteten Eindruck glauben nur 31 % der Muslime, dass das jenseitige Heil allein ihnen zukomme. Andererseits geben 86 % der Muslime an, dass man offen für andere Religionen sein muss (Thielmann 2008:17). Dies demonstriert, dass religiöse Überzeugungen nicht zwangsläufig zur Verachtung anderer Glaubensrichtungen führen müssen. 67 % der Muslime sind der Meinung, dass jede Religion einen wahren Kern habe. Unter Hochreligiösen ist dieser Anteil mit 71 % sogar etwas höher (Thielmann 2008:17). Wie man sieht, sind es gerade differenzierte Fragen, mit denen die interessanten Schattierungen der Glaubensstruktur zutage gefördert werden können.

Verblüffend ist auch die Irrelevanz von Religion für die politische Grundhaltung der Muslime: Nur 16 % geben an, dass ihr Glaube eine große Rolle für ihre politischen Anschauungen spielt (Thielmann 2008:20). Der Gemeinplatz, dass Religion und Politik im Islam nicht zu trennen seien, scheint für die Muslime in Deutschland im Wesentlichen nicht zu gelten.

3.2.3 Religion und Diskriminierungserfahrungen

Eine der wichtigsten Ergebnisse einer Studie des Zentrums für Türkeistudien von 2005 zu jungen Muslimen zwischen 18 und 29 Jahren lautet, dass deren Religiosität mit den sehr kritischen Debatten in den Medien seit dem 11. September und der allgemein spürbaren, anonymen Zunahme an Misstrauen gegenüber Muslimen im Allgemeinen nicht ab- sondern zugenommen hat (Şen 2007: 18f). Wenn man die starke Identifikation der Muslime mit dem Begriff „Islam“ (oder dem Herkunftsland) als einem wichtigen Aspekt ihrer Identität berücksichtigt, wird diese allgemeine Tendenz verständlich: Je stärker dieser Aspekt der Identität angegriffen wird, umso mehr verteidigt man ihn und identifiziert sich zunehmend mit ihm. Die Studie „Lebenswelten junger Muslime“ (Frindte et al. 2011:180-182) stellt fest, dass 20 % der Befragten von unmittelbaren Erfahrungen des Gehänselt- oder Beleidigtwerdens berichten. Dramatischer fällt der Anteil der Muslime aus, die sich über eine kollektive Darstellung der Muslime als Terroristen in der Öffentlichkeit ärgern. 60 % stimmen dieser Verärgerung voll und ganz zu. Man muss also die Ebene persönlicher Diskriminierung (20 %) von der gruppenbezogener Diskriminierung (60 %) unterscheiden. Aber man sollte auch davon ausgehen, dass Erfahrungen pauschalisierter und gruppenbezogener Negativdarstellungen die Muslime in ihrer Defensivsituation nicht weniger bekräftigen als persönliche Diskriminierungserlebnisse. Dieses Phänomen der Diskrepanz von geringer persönlicher und größerer gruppenbezogener Diskriminierungswahrnehmung kommt nicht nur bei Muslimen vor, sondern ist ein generelles Phänomen bei Minderheiten, das gerade im Schulkontext erhöhter Aufmerksamkeit bedarf.

So berichtete eine bosnische Akademikerin, die nach eigener Aussage im Krieg ihren (islamischen) Glauben aufgegeben hat, dem Autor, dass sie seit einigen Jahren wieder begonnen habe, den Islam gegenüber ihrem deutschen Umfeld zu verteidigen und auch ihre Kinder in diesem Sinne zu erziehen. Als Grund nannte sie, dass der Islam heute von allen mit Terror gleichgesetzt würde, und dass man das nicht so stehen lassen dürfe. Da der Islam auch ein prägender Teil ihrer Identität sei, könne sie nicht schweigen, wenn in ihrem Umfeld der Islam als Terrorreligion bezeichnet wird. Dies demonstriert nochmals, dass kulturelle Signaturen wie deutsch-bosnisch-islamisch zunächst nur eine Sozialisationsbedingung darstellen, und nicht unbedingt eine kohärente Weltanschauung. Darum wird die besagte Bosnierin, die den Islam als Religion ablehnt, ihn leidenschaftlich als einen allseits unter Beschuss stehenden Aspekt von eigener Identität verteidigen.

In der Schule sind oft unbedachte Äußerungen von Lehrkräften, die Muslime an ihr Muslimsein erinnern, ja sie sogar erstmals außer Haus unsanft mit dem Umstand konfrontieren, dass sie etwas vom Rest der Gesellschaft unterscheidet. Manche finden sich dann fortlaufend in der Rolle eines Verteidigers von Islam und z. B. türkischer Kultur wieder. Viele Muslime verunsichert diese Situation. Die aktive Zuwendung zur Religion ist eine der Umgangsstrategien mit dem subjektiv wahrgenommen Druck. Manche Lehrkraft wiederum ist verwirrt über diese nicht erwartete Reaktion und Entwicklung und meint dem wiederum mit kulturellen Argumenten entgegenwirken zu müssen. Trifft der Schüler in dem Umfeld der elterlichen Herkunftskultur nun noch auf Stimmen, die diese Erfahrung kurzerhand als typisch deutsche Ausländerfeindlichkeit abstempeln, was leider nicht selten ist, dann sind alle Zutaten für eine subjektive Wiedererweckung in „türkischer Kultur“ oder im Islam beisammen – und zwar in einem Maße, dass das Individuum und sein Umfeld aufgrund eines falsch angesetzten Diskurses gar nicht mehr registrieren, dass es sich bei ihm in Wirklichkeit um einen Vertreter einer gemischten kulturellen Identität mit einer sehr wohl starken deutschen Teilidentität handelt. Die Lehrkraft überschätzt dann womöglich das Selbstvertrauen des strukturell ohnehin unterlegenen Schülers, der Schüler wiederum überschätzt verständlicherweise den Ernst der Aussage des Lehrers und das nachhaltige Missverständnis ist perfekt. Der Fünftklässler Fatih aus obigem Beispiel berichtete, dass er nach der Erfahrung mit seiner Lehrerin sich immer mehr für den Islam und die Osmanen zu interessieren begann, um zu verstehen, was ihn als Türken eigentlich von den anderen unterscheide und „warum er anders behandelt wird, als die anderen“.

4.  Epilog: Bedingungen eines aufgeklärten
Multikulturalismus

Multikulturalismus als egalitäre Gesellschaftsideologie ist seit dem 11. September 2001, dem Mord an Theo van Gogh 2004 und der starken medialen Präsenz von „Ehrenmorden“ zu einem Unwort verkommen. Seitdem scheinen viele Integrationsforderungen mit maximalen Anpassungsforderungen in allen Lebensbereichen verbunden zu sein, sodass der öffentliche Integrationsdiskurs von Sozialwissenschaftlern bisweilen auch als neo-assimilationistisch tituliert wird (Nieke 2007:98). Andererseits versteht man im wissenschaftlichen Kontext z. B. in Anlehnung an den Psychologen John Berry unter Integration ein Akkulturationsschema, das abhängig von den Integrationsdomänen sowohl die Übernahme der Kultur der Mehrheitsgesellschaft, als auch die Beibehaltung der eigenen Ursprungskultur versteht. Die Macher der Studie Lebenswelten junger Muslime in Deutschland, die sich explizit auf Berrys integrativen Ansatz stützen, schreiben:

„Wir plädieren dafür, das wissenschaftliche Verständnis von Integration stärker im Alltagsverständnis zu verankern; nicht zuletzt, weil zahlreiche Studien auf die positiven Begleitaspekte einer so verstandenen […] Integrationspolitik verweisen […], während Assimilation die zweitbeste Option ist …“ (Frindte et al. 2011: 652).

Eine Möglichkeit der Zusammenführung hat der ehemalige Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte Heiner Bielefeldt in seinem „Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus“ vorgeschlagen (Bielefeldt 2007:17ff). Dieser Ansatz bleibt der Idee des Miteinanders verschiedener Kulturen verpflichtet, jedoch unter der Autorität universeller Menschenrechte. Hier werden letztlich die Prinzipien des Grundgesetzes zur „Leitkultur“ erhoben, an der sich Praktiken und Forderungen in beide Richtungen messen lassen müssen. Jedoch ist dies keine maximalistische Forderung, die die Ausprägungen der Lebensweise als Ganzes zu regulieren versucht. Zum Problem erhoben werden in diesem Ansatz nicht auf Absprache beruhende klassische Rollenverteilungen in der Ehe, sondern eine Zwangsverpflichtung zur klassischen Rollenverteilung; nicht konservative Vorbehalte gegenüber freizügiger Kleidung, sondern eine Nötigung zur Verschleierung; nicht der freiwillige Verzicht auf Freiheiten, sondern die Vorenthaltung von gesetzlich verbürgten Freiheiten. Das Eingriffskriterium lautet dabei nicht, was z. B. der Islam theoretisch für problematische Praktiken erlauben könnte, sondern einzig, welche Praktiken Muslime letztlich für sich als relevant beanspruchen. Dieser Ansatz, der in der pädagogischen Arbeit meist schon intuitiv umgesetzt wird, fordert über die praktische Verpflichtung zu gemeinsamen Grundprinzipien hinaus keine vollständige Angleichung an die Lebensweise der Mehrheit, sondern überlässt dies der eigenen freien Lebensgestaltung, ohne dass dafür mit Diskriminierung und Ausgrenzung zu rechnen wäre.

Womöglich ist diese Perspektive nach einer Phase der multikulturalistischen Harmoniesucht und den seitdem immer wieder nachklingenden Forderungen nach einer generellen Verpflichtung zur nicht näher definierbaren abendländischen Tradition ja der Weg der Mitte für die Zukunft. Hieran müssen jedoch nicht nur Politiker und Bildungstheoretiker, sondern auch intellektuell vermögende Vertreter gerade der muslimischen Minderheit arbeiten, da die nötigen Konzepte der stellenweise erfolgreichen Praxis noch weit hinterherhinken. Vermutlich ist ein wohl definierter und mit deutscher Kulturerfahrung verträglicher Stock an allgemeinen Grundwerten, die nicht ständig neu thematisiert, sondern implizit vorausgesetzt werden, ein guter Kitt, der es den Bürgern einer freien und pluralistischen Gesellschaft erlaubt, ihren eigenen Platz zwischen den Kulturen zu finden, als Begründer neuer Lebensformen, die die Legitimität der etablierten Mehrheitskultur nicht infrage stellen, und zugleich selbst in ihrer Legitimität anerkannt werden.

Literatur

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Internetquellen

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