„Das kannst du mit den Mädchen in der Türkei machen, hier in Deutschland geht das nicht!“ – So lautete nach dem Unterrichtsbeginn die Botschaft einer Lehrerin an einen türkischen Fünftklässler, den sie in der Pause mit deutschen Mädchen beim wüsten Fangenspielen beobachtet hatte. Die Versuche des Schülers, sich vor der Klasse zu erklären, wurden von der Lehrerin abgeblockt. Und erst als die Mädchen ihr in der folgenden Pause erklärten, dass dies wirklich nur Spiel und völlig harmlos war, lenkte sie ein und entschuldigte sich in der nächsten Stunde vor der Klasse bei dem türkischstämmigen Schüler.

Für sie war damit das Thema erledigt – für den Schüler hingegen war diese schmerzhafte Erfahrung laut eigener Aussage erst der Anfang seiner Auseinandersetzung mit der Frage, warum er manchmal anders behandelt wird als seine Freunde ohne Migrationshintergrund. Auch die Osmanen wurden interessant für ihn. Die Identitätsproblematik war somit früh in sein Leben eingebrochen, so wie es leider auch bei vielen anderen muslimischen Kindern und Jugendlichen in Deutschland der Fall ist. Heute ist dieser Junge erwachsen und erfolgreich im Berufsleben angekommen – aber sein Eindruck eines grundsätzlichen Konflikts zwischen deutscher und türkisch-islamischer Identität ist geblieben und im Laufe der Jahre eher noch verstärkt worden.

Ich selbst bin nach zahlreichen Gesprächen mit Musliminnen und Muslimen in Deutschland zum Ergebnis gekommen, dass die emotional aufwühlendste und anstrengendste Problematik für die meisten muslimischen Jugendlichen die Frage nach ihrer „wahren“ Identität und Zugehörigkeit darstellt. Den Familien ist dieses Problem oft nicht in vollem Ausmaß bewusst. Leider wird die Brisanz der Identitätsthematik auch seitens der schulischen Öffentlichkeit oft nicht erkannt, ebenso wenig wie die Reichweite von Erlebnissen wie des oben geschilderten. Viele dieser Jugendlichen wünschen sich insbesondere von Autoritätspersonen wie Lehrkräften eine Anerkennung aller ihre Persönlichkeit prägenden Facetten als legitime Identität – insbesondere seit der Islam zum regelmäßigen öffentlichen Streitthema geworden ist.

In dieser ersehnten legitimen Identität spielen als identitätsstiftende Faktoren nicht nur die deutsche Teilidentität, sondern auch die islamisch-religiöse Beheimatung und die Migrationsgeschichte ihrer Familien eine sensible Rolle – auch wenn die Lebenspraxis selbst oft gar nicht am Islam orientiert ist oder die Umgangssprache im Alltag überwiegend Deutsch ist.

Aufgabe einer Pädagogik der Gegenwart sollte es sein, die Vereinbarkeit der hier genannten drei Teilidentitäten in einer Person – der gesamtgesellschaftlichen (hier: deutschen), der familiär-ethnischen (z. B. türkischen oder arabischen) und der religiösen (z. B. islamischen) – immer wieder sichtbar zu machen, und zwar sowohl muslimisch geprägten Schülerinnen und Schülern gegenüber, als auch den nichtmuslimischen, da sie in derselben Gesellschaft mit diesen leben werden. Ein wichtiger Faktor ist dabei das Lehrerverhalten in identitätsrevelanten Kommunikationssituationen. Im Folgenden sollen einige Empfehlungen hierfür formuliert werden [1], indem das allgemeine Urteilsmuster aus dem Eingangsbeispiel analysiert und folgende zwei pädagogisch relevante Kriterien berücksichtigt werden:

• Vermittlung der Legitimität deutsch-islamischer Biografien bzw. Identitäten.
• Vorwegnahme zu erwartender Betroffenheit bei muslimischen Schülerinnen und Schülern, wenn im Unterricht ein kritisches, aber für sie identitätsrelevantes Thema behandelt wird.

Zusammenfassung:

Vorschlag 1: Behandeln Sie Kulturen nie als homogene und voneinander klar unterschiedene Blöcke.

Vorschlag 2: Bedenken Sie, dass Ihre muslimischen Schülerinnen und Schüler mehreren Kulturen zugleich angehören und gehen Sie sensibel mit deren Identifikationsbegriffen um.

Vorschlag 3: Suchen Sie bei der Deutung von Schülerverhalten nach individuellen Faktoren statt nach einer abstrakten Kultur.

Vorschlag 4: Bringen Sie unerwünschte Verhaltensweisen nicht mit Kultur in Verbindung.

Der kulturalistische Kurzschluss als Sackgasse

Betrachten wir nun nochmals das Eingangsbeispiel. Zum Glück sind Fauxpas von Lehrkräften in dieser Qualität selten – das tiefer liegende Problem hingegen ist deutlich verbreiteter, nämlich die Tendenz das Verhalten oder die Aussagen z. B. eines mutmaßlich muslimischen Schülers unmittelbar auf eine bei ihm vermutete „völlig andere Kultur“ zurückzuführen (wobei Kultur und Religion hier oft synonym verwendet werden). Eine solche Perspektive nennt man kulturalisierend, da sie das Verhalten des Gegenübers nicht aus der Situationslogik oder aus individuellen Faktoren heraus erklärt, sondern dahinter eine dauernd wirksame, homogene und unveränderliche Kultur vermutet.

Kulturalisierende Urteile lassen sich in Form einer logischen Schlussfolgerung zerlegen, die hier als „kulturalistischer Kurzschluss“ bezeichnet werden soll. Am obigen Beispiel dargestellt würde dieser Schluss so aussehen:

• Annahme 1: In der „türkisch-islamischen Kultur“ gilt ein konkreter Katalog an Überzeugungen
und potenziellen Verhaltensweisen.

• Annahme 2: Eine bestimmte Schülerin/ein bestimmter Schüler gehört dieser „türkisch-islamischen Kultur“ an.

• Folgerung: Diese Schülerin/dieser Schüler weist die Überzeugungen und potenziellen

Verhaltensweisen auf, die dem Katalog der „türkisch-islamischen Kultur“ entsprechen. Beide Annahmen sind so nicht haltbar, ebenso die Folgerung. Im Folgenden wollen wir deren Probleme genauer untersuchen.

Vorschlag 1: Behandeln Sie Kulturen nie als homogene und voneinander klar unterschiedene Blöcke.

Die Annahme 1 im kulturalistischen Kurzschluss (einfache Katalogisierbarkeit) geht von der Homogenität einer „fremden Kultur“ aus. Diese Annahme ist jedoch problematisch, weil Kulturen nicht homogen und statisch, sondern in sich vielfältig, gar widersprüchlich, veränderlich und dabei von anderen Kulturen stets mit beeinflusst sind [2]. Eine „türkisch-islamische Kultur“ beispielsweise kennt – ebenso wie auch eine „deutsche Kultur“ – ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Teilkulturen und Ausprägungen, die in vielen Punkten sehr unterschiedlich voneinander sein können und deren Inhalte sich bis auf wenige Punkte kaum katalogisieren lassen.

Was folgt daraus? Zum einen sollte die Lehrkraft es vermeiden, pauschal über „den Islam“ oder „die türkische/arabische Kultur“ etc. zu sprechen, insbesondere wenn damit Negativurteile verbunden sind. So sollte es nicht primär darum gehen, ob beispielweise der „IS“ etwas mit dem Islam zu tun hat, sondern darum, dass der „IS“ ein bestimmtes und extremes Islamverständnis einer Minderheit vertritt (nämlich eine Form des dschihadistischen Salafismus), das von der Mehrheit der religiösen Muslime entschieden abgelehnt und kritisiert wird. Diese Darstellung ist realistisch, für viele Fragestellungen präzise genug und bringt muslimische Schülerinnen und Schüler nicht in eine potenzielle Rechtfertigungssituation, da die Lehrkraft bereits zeigt, dass sie differenzieren kann und die mehrheitlich friedlichen Positionierungen im Islam anerkennt und wertschätzt [3]. Zur Abrundung ist es sinnvoll zu erwähnen, dass es auch brutalen Terrorismus mit christlichem und säkularem Hintergrund gibt [4].

Auch sollte beispielsweise nicht pauschal von „Ehrenmorden in der Türkei“ gesprochen werden (auch wenn es mal genau darum geht), sondern von „Ehrenmorden in bestimmten Regionen oder Kreisen der Türkei, von denen man weiß, dass die stark von Stammesstrukturen geprägt sind.“ Dies transportiert die Botschaft, dass das Problemphänomen der Ehrenmorde nicht wesenstypisch für eine türkische Kultur ist, sodass auf Schülerseite gar nicht erst ein Verteidigungsdruck entsteht. Wichtig wäre es hier, als Lehrkraft zu betonen, dass Ehrenmorde in vielen (auch nichtislamischen) Kulturen der Welt vorkommen, sodass nicht der Eindruck einer bewussten Fokussierung des Problemthemas auf den muslimischen Kontext entsteht.

Vorschlag 2: Bedenken Sie, dass Ihre muslimischen Schülerinnen und Schüler mehreren Kulturen zugleich angehören und gehen Sie sensibel mit deren Identifikationsbegriffen um.

Selbst, wenn es homogene Kulturen gäbe: Ein in Deutschland geborenes und aufgewachsenes Kind aus einer muslimischen Familie ist mindestens von zwei kulturellen Einflüssen geprägt, nämlich vom Einfluss seiner Familie (die wiederum wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten in Deutschland lebt) und vom vielfältigen Einfluss der Mehrheitsgesellschaft. Letzteres bedeutet konkret, dass muslimische Heranwachsende zu einem wichtigen Teil auch „deutsch“ sozialisiert sind. Es wird selten ausgesprochen: Es handelt sich bei ihnen – zusätzlich zur deutschen Staatangehörigkeit – auch soziologisch um Deutsche. Anderes ist nach 15.000 Stunden Schulunterricht mit überwiegend Lehrerinnen und Lehrern ohne Migrationshintergrund an staatlichen Schulen selbst bei einer möglicherweise isoliert lebenden Familie auch gar nicht denkbar. Darum ist die zweite Annahme im obigen Kurzschluss, nämlich die der automatischen Zugehörigkeit allein zur „fremden Kultur“, falsch.

Fast alle muslimischen Schülerinnen und Schüler sind kulturelle Hybride, leben also gleichzeitig sowohl „deutsche“ als auch beispielsweise „türkische“ und schließlich auch „muslimische“ Lebensstile und schaffen so neue Synthesen. Diese Attribute sind bewusst in Anführungszeichen gesetzt, da sie hier nur als Bezeichnungen für die sozialen Milieus, in denen sie verkehren, verwendet werden, und nicht als abstrakte auf sie einwirkende Kulturen (s. o.). Diese kulturelle Synthese zu einer Art deutsch-islamischen (oder genauer: deutsch-türkisch-islamischen etc.) Identität ist jedoch fragil. Für sie gibt es heute zwar viele praktisch gewonnene Wege, aber kaum eine gesellschaftlich registrierte und voll anerkannte Form, auf die muslimische Jugendliche problemlos zurückkommen können. Das macht diesen Bereich besonders sensibel, wie an einigen Beispielen gezeigt werden soll.

Ein wohlmeinender Studienrat lobte einmal eine türkischstämmige Siebtklässlerin, die zur Leistungsspitze in der Klasse gehörte, mit den Worten: „Ich wünsche dir von Herzen, dass du in unserer Gesellschaft deine Emanzipation findest.“ Nach eigener Aussage empfand sie diese Aussage damals als ebenso verstörend wie viele Jahre später als Abiturientin. Das übersehene Phänomen ist schlechthin, dass sich die meisten muslimischen Mädchen in Deutschland – sofern sie ein Emanzipationsdefizit verspüren – nicht etwa vom Islam und ihrer familiären Herkunft als konstitutive Teile ihrer Identität emanzipieren wollen, sondern mit dem Islam und ihren Wurzeln (was in der Regel nicht heißt, dass man ihnen dies ansehen kann) [5]. Voraussetzung für diesen Lebensvollzug ist nicht, dass diese Vereinbarkeit erst theologisch, politisch oder ideengeschichtlich hergeleitet wird, auch wenn das vom Standpunkt des Theoretikers aus betrachtet befriedigender wäre, sondern einzig, dass dem Individuum von Seiten der Gesellschaft die prinzipielle Möglichkeit und Legitimität einer solchen Synthese zugesichert wird. Den konkreten Weg muss das Individuum selbst gehen. In nur wenigen Fällen sind diese Wege theoretisch fundiert. Das Individuum sollte den „Ideologen“ auf den verschiedenen Seiten jedoch keinerlei Rechenschaft darüber schuldig sein. Die pädagogische Perspektive zeigt sich hier gerade darin, dass sie den Heranwachsenden das stetige Recht auf neue und originelle Entwürfe ihrer selbst zubilligt und sie in Schutz vor von außen herangetragenen kulturell engen Denkverboten nimmt.

Zu dieser Lehrerinnen-/Lehrerhaltung gehört es auch, mutmaßlich muslimische Schülerinnen und Schüler nicht mit Fragen der Art „Wie feiert ihr Türken denn eure religiösen Feiertage daheim?“ zu konfrontieren. Denn die Form der Frage transportiert schon die Botschaft, dass das Gegenüber vor allem „türkisch“ sei, aber auf keinen Fall „deutsch“. Ferner unterstellt sie praktische Erfahrungen und theoretische Kenntnisse, die vielleicht gar nicht vorhanden sind. Denkbarer ist hier schon eine Frage wie: „Kannst du uns vielleicht etwas darüber sagen, was türkische Familien an den religiösen Festtagen machen?“ Wenn auch das noch zu riskant erscheint, kann man auch allgemein in die Klasse fragen: „Hat jemand von euch Erfahrungen damit, wie türkische Familien ihre Festtage feiern?“ Der Vorteil ist, dass hier ein Nicht-Wissen oder Nicht-Auskunft-geben-Wollen auf (türkischer) Schülerseite nicht zur Verlegenheit führen muss – zudem kann es sein, dass einige Nicht-Türkinnen und Nicht-Türken in der Klasse viel Interessantes hierzu zu berichten haben, wenn sie beispielsweise bei ihren Nachbarn oder im Urlaub muslimische Feiertage miterlebt haben.

Bedenklich erscheint mir auch der Fall eines Grundschülers, der zum ersten Mal im Leben von einem Lehrer die Frage zu hören bekam: „Bist du eigentlich Sunnit oder Schiit?“ Zuvor hatte er noch nie von diesen Begriffen gehört, aber musste ihnen nun doch daheim nachgehen. „Seit diesem Tag bin ich Sunnit“, berichtete er mir viele Jahre später. Es ist fraglich, ob solche Identität zuspitzenden Fragen aus pädagogischer Perspektive sinnvoll sind. Sie formen nämlich oft mehr, als dass sie erschließen.

Es kann jedoch auch Fälle geben – vor allem in höheren Klassenstufen – in denen es für eine muslimische Schülerin/einen muslimischen Schüler von Wert sein kann, wenn sich die Lehrkraft bei der Behandlung eines kritischen Themas im Umfeld des Islam von selbst an diese/diesen wendet und ihr/ihm sinngemäß sagt: „Dieses Thema ist für uns alle fremd und schwierig. Ich finde es sehr schön, dass du unter uns bist und uns vielleicht helfen kannst, hier manches besser einzuordnen. Wenn du möchtest, kannst du dich am Anfang der Stunde dazu äußern, oder auch später. Nur wenn du willst natürlich.“ Im Zweifelsfall kann so ein Gespräch noch vor dem entsprechenden Unterricht oder der Unterrichtseinheit unter vier Augen stattfinden. Manchmal ist dies aber auch gut vor der versammelten Klasse möglich, sofern die Klasse sozial gefestigt genug und die Position der betreffenden Schülerin/des betreffenden Schülers darin unkritisch ist. Pädagogisch entscheidend ist es hier nicht, maximal von den eventuellen Spezialkenntnissen der Schülerin/des Schülers zu profitieren, sondern ihr/ihm als Lehrkraft zu signalisieren, dass sie sich dessen bewusst ist, dass das Thema der Stunde eventuell identitätssensibel und somit heikel für die Schülerin/den Schüler sein kann, und dass die Lehrkraft ihr/ihm deswegen die Sicherheit geben möchte, dass sie/er sich an keiner Stelle unwohl fühlen muss.

Gänzlich problematisch wird es jedoch, wenn Lehrkräfte im Unterricht oder im Einzelgespräch undifferenziert Urteile aus dem öffentlichen Diskurs zum Islam, zu muslimisch geprägten Ländern oder beliebten muslimischen Persönlichkeiten zitieren und damit verbal womöglich Identifikationsräume verschließen, wie etwa mit einem Satz der Art: „Für (Musliminnen und) Muslime ist ein säkularer Staat undenkbar“. In jeder Hinsicht besser wäre: „Mittlerweile haben sich viele (Musliminnen und) Muslime mit der Idee einer säkularen Demokratie angefreundet, auch wenn dies in der islamischen Welt nicht überall die Regel ist. In Deutschland jedenfalls befürworten fast alle Musliminnen und Muslime unsere Staatsform [6]. Das Christentum hat sich übrigens auch lange damit schwer getan.“ Problematisch ist auch ein Satz wie: „Der Islam hat keine Aufklärung erlebt.“ Selbst wenn dies wahr wäre: Die Musliminnen und Muslime in der Klasse selbst erleben mehrheitlich Aufklärung als Teil ihrer Biografie, was offensichtlich in Spannung zum zitierten Satz steht. Ferner kennt die islamische Geschichte natürlich viele Aufklärungsdenker und -ansätze, auch in der Gegenwart. Dass Aufklärung vielfach zu keiner anhaltenden und gesellschaftlich dominierenden Kraft wurde, lässt sich soziologisch (z. B. durch ein schwach ausgeprägtes Bürgertum) leichter erklären als durch Verweis auf ein „Wesen des Islam“, über das auch in der Islamwissenschaft und in der islamischen Theologie nach wie vor ein großer Gelehrtenstreit tobt.

Die Lehrkraft, die bei heiklen Themen dieser Art ihr eigenes Vorwissen öffentlich relativieren kann („In den Büchern, die ich bisher zum Islam gelesen habe, habe ich den Eindruck gewonnen, dass … Aber das ist natürlich nur eine von mehreren Sichtweisen …“), erspart es überdies muslimischen Schülerinnen und Schülern, sich innerlich auf eine Verteidigungssituation gegenüber der Lehrkraft einzustellen, was emotional sehr belastend sein kann. Und sie gibt damit zugleich ein gutes Vorbild für den wissenschaftlichen Umgang mit komplexen Themengebieten.

Generell ist hier anzuraten, keine pauschalen Wesensaussagen zum Islam, zu den verschiedenen kulturellen Prägungen der Familien von Schülerinnen und Schülern oder zu anderen identitätsrelevanten Begriffen und Symbolen (konkrete Länder, Allah, Koran, Muhammad etc.) zu treffen, die grundsätzliche Unvereinbarkeiten mit deutscher Identität implizieren. Das bedeutet nicht, dass es keine Spannungsfelder gäbe oder dass man diese nicht thematisieren solle – wichtig ist es aber, über diese so zu sprechen, dass die Lehrkraft ihre Schülerin oder ihren Schüler nicht implizit vor eine Entweder-oder-Entscheidung stellt, der sie in dem Alter nicht gewachsen sein können, sondern stets das Angebot gemischter kultureller Identitäten in voller Breite gelten lässt.

Vorschlag 3: Suchen Sie bei der Deutung von Schülerverhalten nach individuellen Faktoren statt nach einer abstrakten Kultur.

Selbst wenn man soziologisch sinnvoll über so etwas wie eine eindeutige Kulturzugehörigkeit sprechen könnte, wäre auch die Folgerung des kulturalistischen Kurzschlusses („Die Schülerin bzw. der Schüler denkt und lebt gemäß der fremden Kultur“) immer noch eine unzulässige Vereinfachung. Denn es sind nie nur tradierte Hochkulturen, die auf einen Menschen einwirken, sondern stets auch eine Reihe höchst individueller Faktoren, über die man als Außenstehender oft kaum etwas weiß. Darum ist hier ein Bewusstsein vom eigenen vorläufigen Nichtwissen als Lehrkraft weiterführender als der Versuch das Denken und Fühlen des Gegenübers durch logische Schlussfolgerungen zu „erraten“. Diese müssen vielmehr individuell in der Begegnung schrittweise erschlossen werden. Zu diesen individuellen Faktoren gehören die sozioökonomische Lage der Familie, ihr Bildungshintergrund, ihr Wohnort, das konkrete soziale Milieu, Migrationsvergangenheit, das Vorhandensein von Vorbildern, gute bzw. schlechte Erfahrungen mit der Gesamtgesellschaft, subjektiv wahrgenommene Lebensperspektiven, Grad der Anerkennung und Wertschätzung durch die Gesellschaft, Veranlagungen etc. Auch der Grad der Religiosität und ihre konkrete Umsetzung variiert stark unter Musliminnen und Muslimen, sodass manchmal Religion gar kein prägender Faktor mehr für die Lebensweise ist (wenn sie auch nominell immer noch ein wichtiger Identifikationsbegriff sein kann). Nicht zu vergessen sind entwicklungspsychologische Aspekte wie das Pubertätsalter und die allgemeine Identitätssuche im Jugendalter. All dies wird von Lehrkräften manchmal übersehen, wenn es um Probleme mit mutmaßlich muslimischen Schülerinnen und Schülern geht. Pointiert gesprochen: Theologie wird überschätzt, Testosteron unterschätzt. Auch dies ist eine Seite des kulturalistischen Kurzschlusses.

Bemerkenswerterweise stößt man auf den Kulturalismus vor allem dann, wenn Lehrkräfte versuchen, problematische Verhaltensweisen von mutmaßlich muslimischen Schülerinnen und Schülern zu erklären, während das Eintreffen von erwünschtem Schülerverhalten in der Regel nicht kulturalisiert wird. Man hört also selten einen Satz wie: „Die islamische Zivilisation hat wichtige Beiträge für unsere heutige Mathematik geleistet. Es ist kein Wunder, dass Ahmet der Klassenbeste in Mathe ist.“ Andererseits hört man in Gesprächen zwischen Lehrkräften durchaus mal Sätze der Art: „Wenn Sie türkische Jungs in der Klasse haben, müssen Sie als Frau schon mal damit rechnen, nicht respektiert zu werden.“ Während respektloses Verhalten von muslimischen Jungen gegenüber Lehrerinnen also immer wieder direkt mit muslimischer Kultur in Verbindung gebracht wird, gerät die Tatsache völlig aus dem Blick, dass die Mehrheit der muslimischen Jungen nicht durch ein solches Machoverhalten auffällt. Warum genügt dann letztere Erfahrung nicht um ersteres Pauschalurteil zu relativieren? Dieser Selektionseffekt ist vielleicht ein allgemeines Denkmuster, das der Sozialforscher Hacı-Halil Uslucan so zusammenfasst: „Die etablierte Mehrheitsgesellschaft identifiziert sich mit den besten ihrer Vertreter, die (neue) Minderheit wird aber mit den negativsten ‚Exemplaren‘ ihres kulturellen oder ethnischen Hintergrunds identifiziert.“ [7] Diese Identifikation wird stabilisiert und plausibilisiert durch die These von der „fremden“ und damit eigentlich auch unerwünschten Kultur. Aus dieser Beobachtung kann man sodann einen weiteren Vorschlag für die kritische Pädagogin/den kritischen Pädagogen ableiten:

Vorschlag 4: Bringen Sie unerwünschte Verhaltensweisen nicht mit Kultur in Verbindung.

Die kulturalistische Perspektive lässt nicht nur die Aussicht auf eine erfolgreiche Verhaltensänderung durch pädagogische Maßnahmen unwahrscheinlich wirken, sondern sie trägt im schulischen Diskurs auch maßgeblich zu einer Zementierung des Klischees von „fremder/islamischer Kultur“ als ständiger Problemquelle bei. Dabei hat der Junge aus dem Eingangsbeispiel vermutlich einfach nur so Fangen im Schulhof gespielt, wie er es aus seiner Freizeit mit seinen Freunden auf dem Spielplatz kannte. Darum hätte hier die Bitte der Lehrkraft genügt, auf dem Schulgelände vorsichtiger und zurückhaltender miteinander zu sein, begleitet von Hinweisen auf mögliche Gefahren. Ein respektloser Ton gegenüber Lehrerinnen wiederum könnte ein unreflektiertes Kompensationsverhalten für ausbleibende Erfolgserlebnisse darstellen und von schlechten Vorbildern abgekupfert sein, die weit von traditioneller Kultur entfernt sind. Hier muss das primäre Ziel der wechselseitig respektvolle Ton sein – ohne Bezugnahme auf vermeintliche Kulturdifferenzen. Und wenn schon Kultur ins Spiel kommen muss, etwa weil ein türkischstämmiger Schüler „seine Kultur“ als Begründung für sein Verhalten einbringt (was unwahrscheinlich ist), dann bietet sich im Gespräch vielleicht ein Hinweis folgender Art an: „Soweit ich weiß, genießen Lehrerinnen in der Türkei genau wie Lehrer einen sehr großen Respekt. Auch meine türkischen Schüler vor dir waren nie respektlos zu mir. Von dir wünsche ich mir das auch, so wie ich dich ja auch respektvoll behandele.“

Solche Umgangsformen suchen keine simplen Erklärungen von Fehlverhalten in spekulativer „fremder Kultur“, sondern stellen das erwünschte Verhalten in den Vordergrund, gehen von einer pädagogischen Unschuldsvermutung aus („Mein Gegenüber merkt nicht, wie sein Verhalten nach außen wirkt; darum helfe ich ihm dies zu erkennen“) und unterstellen ein gutes individuelles Entwicklungspotenzial. Zugleich verzichtet diese Perspektive, wenn sie auf erwünschtes Verhalten stößt, bewusst auf jegliche Ausnahmenrhetorik der Art: „Du bist nicht wie die anderen (Musliminnen und Muslime). Du bist eine Ausnahme.“ Denn diese würde implizieren, dass „die anderen“ an sich „schlecht“ sind, und dass Gut-Sein sich nicht mit der „anderen“ Teilidentität des Gegenübers verträgt. All dies projiziert (Vor-)Urteile über vermeintliche Kollektive auf das Individuum und ist kontraproduktiv für eine integrative Identitätsentwicklung. Auch hier gilt es, das Individuum wirklich als solches zu behandeln und nicht als Vertreter oder Überbieter vermeintlicher Kollektive. Aber dazu müssen muslimische Schülerinnen und Schüler schon auf der Ebene der Lehrerkonzepte radikal als Individuen gedacht werden – auch wenn der Reiz groß ist, diese über einen größeren kulturellen Zusammenhang erkennen und definieren zu wollen, über den wir aber oft nichts oder nur sehr wenig wissen können.

Schlussswort: Das Gemeinsame als solches aussprechen

Ein Kerngedanke dieses Artikels besteht in der Annahme, dass Individuen auch mit sehr unterschiedlichen Hintergründen auf menschlicher Ebene viel gemeinsam haben. Dazu gehört das Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung. Wie gezeigt, ist die Identitätsthematik für Jugendliche aus der muslimischen Minderheit ein höchst aktuelles und brisantes Thema und erfordert zur integrativen Identitätsentwicklung einen sensiblen Umgang mit identitätsrelevanten Begriffen und Symbolen durch Lehrkräfte. Die hier gemachten Vorschläge sollen eine inklusive Kommunikation unterstützen. Dazu gehört auch die geduldige Arbeit an einem Wir-Gefühl. Im Kontext von problematischen Erscheinungen, etwa bei der Thematisierung von Terroranschlägen beispielweise des „IS“, kann dies befördert werden durch Lehreräußerungen der Art: „Heute müssen wir als friedliche Christen, Juden, Muslime und Konfessionslose zusammenstehen gegen den Terror der Fanatiker aus den Kreisen unserer eigenen Gesellschaften, egal ob sie ‚IS‘, Anders Breivik oder NSU heißen. Sie dürfen es nicht schaffen, uns zu spalten.“ In erfreulicheren Themengebieten wie dem der Kulturleistungen der Menschheit hingegen können Lehrkräfte einen wertvollen Beitrag leisten, wenn es ihnen gelingt zu vermitteln, „daß das wahrhaft Verdienstliche sich dadurch auszeichnet, daß es der gesamten Menschheit angehört“ [8] (Goethe).

Fußnoten

[1] Vgl. Foitzik, Andreas: „Handlungsstrategien für Lehrkräfte – Rassismuskritische Ansätze in der Pädagogik“. In: Landesinstitut für Schulentwicklung u.a. (Hrsg.): Jugendliche im Fokus salafistischer Propaganda. Was kann schulische Prävention leisten? Teilband 1. Stuttgart, 2016: S. 92-100.

[2] Vergleiche hierzu beispielsweise das Konzept der „Transkulturalität“ bei: Welsch, Wolfgang: „Transkulturalität – Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen“. In: Ethik & Unterricht (Nr. 3/2011): S. 9-12.

[3] Für muslimische Stellungnahmen zum dschihadistischen Terrorismus siehe die dreisprachige Linksammlung des Islamwissenschaftlers Serdar Güneş. Online unter: https://serdargunes.wordpress.com/2014/09/22/muslimische-quellengegen-den-terrorismus/; letzter Zugriff am 15.05.2017.

[4] Man denke an die vermeintlich christliche Lord’s Resistance Army in Afrika und den Ku-Klux-Klan, aber auch an die sich säkular positionierenden Terrororganisationen NSU, PKK und die einstige RAF.

[5] Als prominente Beispiele für Musliminnen, die sich aus spezifisch islamischen Standpunkten heraus emanzipiert und dabei eigene Lebensstile entwickelt haben, können hier die Bloggerin Kübra Gümüşay oder die Autorin Sineb el Masrar genannt werden.

[6] Siehe hierzu die Sonderauswertung Islam 2015 des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung, aus der hervorgeht, dass 90 Prozent der hochreligiösen sunnitischen Musliminnen und Muslime die Demokratie für eine gute Regierungsform befinden. Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): „Religionsmonitor. Sonderauswertung Islam 2015. Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick“. Online unter: www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/51_Religionsmonitor/Zusammenfassung_der_Sonderauswertung.pdf; letzter Zugriff am 15.05.2017.

[7] Uslucan, Hacı-Halil: „Wie fremd sind uns die Türken?“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) (Nr. 43/2011). Online unter: www.bpb.de/apuz/59731/wie-fremd-sind-uns-die-tuerken-essay?p=all; letzter Zugriff am 15.05.2017.

[8] Zitiert nach: Takeda. Arata: „Wir sind wie Baumstämme im Schnee – Ein Plädoyer für transkulturelle Erziehung“. Münster, 2012: S. 81.