I. Deutschland retten – aber vor was?

Plötzlich legte der Seminarleiter eine Folie mit einer vollständig in Burka gehüllten Frau auf. Unter dem Gewand streckte sie ihre Hand heraus und dem Betrachter bohrte sich der Anblick ihres vestümmelten Daumens ins Auge. Die Taliban hatten ihn abgeschlagen, weil sie ihn lackiert hatte. Übergroß, geradezu bedrohlich ragte das Bild von der geschundenen Frau über meinen Kopf. In der vorigen Woche hatte ich im Weltreligionenseminar ein Einführungsreferat über islamische Theologie und Mystik gehalten. Heute sollte ich zum Thema Mann und Frau im Islam referieren – und dies war nun die unerwartete Stimulanzie dazu. Lange hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, wie ich die Koranverse zum Thema systematisieren kann, um anschließend einige traditionelle und zeitgenössische Interpretationen vorzustellen. Das erfreuliche Ergebnis sollte sein, dass der Koran durchaus in einem sehr emanzipatorischen Sinne ausgelegt werden kann. Und nun dieses deplazierte Foto, das von mir offensichtlich einige Betroffenheitsbekundungen abverlangte.

Der Zeitpunkt für eine Grand Tour durch die Problemthemen rund um den Islam war also gekommen. Jetzt ging es nicht mehr um die schönen Namen Allahs, um mystische Gottessuche oder islamische Natur- und Toleranzphilosophie, sondern um Bombengürtel, Bin Laden und miesgelaunte Bartträger. Ich krempelte die Ärmel hoch, holte tief Luft und ein langer – aber Gott sei Dank sehr fruchtbarer – Austausch begann. Allerdings müssen wir so engagiert diskutiert haben, dass wir nicht merkten, wie sich eine ältere Seminarteilnehmerin allmählich ausklinkte und nur noch bedächtig zuhörte. Ein Schweigen, hinter dem sich viel verbarg. In der folgenden Woche machten wir eine Abschlussrunde und insbesondere mit unseren Aussprachen zum Islam war jeder zufrieden – naja, fast jeder. Als die genannte Teilnehmerin das Wort hatte, passierte etwas, was mich deutlich mehr verletzt hat als es die Mohammed-Karikaturen, die Regensburger Papstrede und die Idomeneo-Oper zusammen wohl je geschafft hätten.

Sie sagte, dass sie von den Islam-Sitzungen so schockiert gewesen sei – das sah man ihr in der Tat an –, dass sie nun einen Brief geschrieben habe. Einen Brief? Jawohl, einen Brief. Und zwar an das Bundesinnenministerium. Die Deutschen sollten sich gegen die Muslime zur Wehr setzen. Anfangs hätte sie das Thema sehr spannend gefunden, doch dann sei alles so abschreckend geworden. Sie beteuerte, dass ich persönlich als „intellektueller Mensch“ zu einer winzigen Minderheit unter den Muslimen gehörte, dass aber der Rest im Prinzip aus Barbaren und Bombenlegern bestünde. Ich spürte, wie sich ein mieses Gefühl in meinem Bauch breitzumachen begann. Ratlos fragte ich, warum sie denn nicht hier mit uns – ich war der einzige Muslim in der Runde – diskutiert und gestritten hat. Mit zittrigen Lippen und zusammengekniffenen Augen murmelte sie: „Es war meine Aufgabe Deutschland zu beschützen.“

Grandioser könnte ein Dialogversuch wohl nicht scheitern. Unsere Terror-Talks hatten bei ihr mehr kaputtgemacht als geklärt, wobei ich nicht sicher bin, ob sie überhaupt an Klärung interessiert war. Wie ich später erfuhr, blieb meine Betroffenheit nicht verborgen. So meinte nach dem Seminar eine Kommilitonin zu mir: „Nimm das doch nicht so persönlich. Ich hatte vor kurzem mit dem Vater eines türkischen Freundes auch eine absolut frustrierende Diskussion. Ich habe ihm kein einziges seiner Vorurteile gegenüber Christen ausreden können. Wir müssen einfach mit dem Dialog weitermachen. Solche Leute wird es immer geben.“ Natürlich hat sie Recht. Und doch fällt es einem manchmal unendlich schwer, dies zu akzeptieren. Ähnlich schwer tut man sich als Muslim auch mit der Tatsache, dass der Begriff Islam – für die Gläubigen der Inbegriff des moralisch Guten – in der Öffentlichkeit meist sehr negativ besetzt ist. Was also tun? Mit dem Dialog weitermachen, auch wenn es mal in die Hose geht, auch wenn man manchmal einfach nur weglaufen möchte. Jetzt ist einfach nicht die Zeit für Selbstmitleid, Beleidigtsein und einseitige Schuldzuweisungen. Also, ran an die Front!

II. Das Elend des Dualismus

Das Problem wäre wohl einfacher zu lösen, wenn man der zitierten Beschützerin Deutschlands oder dem türkischen Glaubenseiferer einfach nur eine Portion Ahnungslosigkeit, gepaart mit Vorurteilen, attestieren könnte. Sie wären dann lediglich Opfer ihrer Voreingenommenheit, und man könnte sie mit guten Argumenten zu einer differenzierteren Betrachtungsweise bekehren. In Wirklichkeit jedoch mischen sich in der Begegnung der christlich-abendländischen mit der islamischen Welt geradezu manichäistische Schwarz-Weiß-Weltbilder mit tatsächlich bestehenden Konflikten und Problemen – allerdings meist mit Problemen, die räumlich, zeitlich und kausal weit von der Lebenswirklichkeit unseres Gegenübers entfernt sind. Und für diese soll man nun irgendwie geradestehen. Typische Probleme dieser Art sind die Gesellschaftsstrukturen in manchen muslimisch dominierten Regionen, die bis zur totalen Ausgrenzung und praktischen Rechtlosigkeit der Frau geführt haben. Oder jene dunklen Geister, die unverfroren im Namen meines Gottes, meines Propheten und meiner Religion verkünden, dass Mörder von Zivilisten ins Paradies kommen. Das sind in der Tat Zustände, über die man nicht hinwegsehen darf.

Problematisch wird diese Betroffenheit jedoch, wenn man nun durch die dualistische Brille schaut und diese Missstände apriori in einen Zusammenhang zu den Muslimen vor unserer Haustür bringt. Es scheint mir ebenso dualistisch, wenn man von den Muslimen – oder dem Westen – als einem ideologischen Kollektiv spricht. Zumindest die Muslime sind heute zersprengter denn je zuvor. Wem etwas an intellektueller Redlichkeit liegt, wird sich vor solchen kurzsichtigen Generalisierungen fernhalten und versuchen, „die anderen“ in ihrer unglaublichen Mannigfaltigkeit wahrzunehmen. Das geht jedoch nur, wenn beide Seiten endlich ihre Kommunikationsfeigheit besiegen und ihrem Gegenüber in Selbstbewusstsein und Respekt entgegentreten. Tunlichst zu vermeiden ist auch der ideologische Kurzschluss, der kurzerhand jede Handlung und jedes Wort eines Menschen unmittelbar auf seine Religion oder eine ihm unterstellte Ideologie zurückführt. Dabei gibt es so viele soziale, ökonomische und psychologische Faktoren, die unter den Muslimen – und nicht nur unter ihnen – viel wirkungsmächtiger sind als z. B. der Koran. Nach diesen muss man suchen.

Die genannten Punkte gelten freilich auch in der umgekehrten Richtung: Als Muslim muss ich es vermeiden,  mich unter dualistischen Vorzeichen in die ewige Opferrolle zu flüchten – in diesem Land haben wir einfach zu viel Positives erlebt, um die Opferrolle annehmen zu können. Ebenso muss man bedenken, dass die aktuelle islamkritische Stimmung im Lande nicht einfach auf eine angeborene Islamfeindlichkeit der ‚Deutschen‘ zurückgeführt werden kann.

III. Das Dilemma der Muslime

Es ist klar, dass zunächst einmal die Muslime selbst etwas gegen das negative Image des Islam tun müssen. Doch wie soll man als gläubiger Muslim bei der heutigen Stimmung offen über Missstände „in den eigenen Reihen“ reden, ohne der eigenen, geliebten Religion in den Rücken zu fallen? Schließlich hören die Muslime in vielen Diskussionen einen unerträglich dualistischen Ton heraus: Entweder entscheidet ihr euch für die aufgeklärt-westliche, oder die rückständig-islamische Weltanschauung. Dazwischen gibt es gefälligst nix. In dieser dialektischen Zwickmühle empfinden es die meisten muslimischen Jugendlichen in Deutschland als ihre wichtigste Aufgabe, die Ehre des Islam zu retten, denn nur um diese scheint es zu gehen – die eigentlichen Probleme treten für sie in den Hintergrund. Dabei hätte man in ihnen einen mächtigen Verbündeten gegen Missstände wie Frauenunterdrückung, religiös motivierte Gewalt etc. – Missstände, die den jungen Muslimen nicht nur sehr peinlich, sondern ebenso zuwider sind wie der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Man denke da z. B. an die neueren empirischen Untersuchungen, die zeigen, dass die meisten Frauen mit Kopftuch hinsichtlich Beruf und familiärer Rollenverteilung sehr emanzipiert denken – garantiert zu emanzipiert für Vertreter einer patriarchalen Machokultur.

Es ist an der Zeit, sich mit den Muslimen, insbesondere auch mit den praktizierenden, gegen missliche Zustände zu verbünden. Rüdiger Nehberg hat mit seinem Projekt gegen weibliche Genitalverstümmelung vorgemacht, wie man selbst mit orthodoxesten Muslimen zusammenarbeitet  – das konnte er aber nur, weil er seinen Gesprächspartner sehr gut kannte. „Wenn ein Deutscher auch nur das Wort ‚Türke‘ in den Mund nimmt, werde ich nervös, weil ich weiß, dass gleich Kritik kommt“, meinte mal ein türkischer Auszubildender zu mir. Entsprechend geraten selbst die moderatesten Muslime manchmal in eine verbissene Verteidigungshaltung, die den Anfragenden nur noch mehr verwirrt. Muslime übersehen dabei oft, dass die Mehrheit der deutschen Bürger an der Theorie der Koranexegese oder an islamischer Theologie noch weniger interessiert ist als an der Bibel oder an christlicher Dogmatik. Was sie plagt, ist vielmehr das Aufschrecken vor dem Fremden und bisweilen, vor allem seit dem 11. September, blanke Angst vor einer diffusen Bedrohung. Darüber wollen die meisten Deutschen reden – an islamischer Theologie reicht meist schon ein kurzer Abriss. „Der hat so sehr von seiner Religion geschwärmt, dass wir uns gar nicht getraut haben unsere Fragen zu stellen“, resümierte mal eine deutsche Fortbildungsteilnehmerin über einen muslimischen Referenten. In der heutigen Lage brauchen wir offensichtlich keine überzeugten Schwärmer, sondern aufrichtige, einfühlsame Gesprächspartner.

IV. Fehlende Identifikationsangebote

Wie schaffen wir es, die muslimischen Jugendlichen für den Dialog und für Deutschland zu begeistern? Der Schlüsselbegriff lautet meines Erachtens: Identifikation. Diese kann nicht gesetzlich vorgeschrieben und auch nicht gesellschaftlich eingefordert werden. Vielmehr muss ich von den für Deutschland konstitutiven Ideen wie der Unantastbarkeit der Würde, der Demokratie, der Meinungsfreiheit und der Emanzipation durch und durch profitiert haben, gerade auch als gläubiger und praktizierender Muslim, um sie als wesentliche Bestandteile meiner kulturellen Identität empfinden zu können. Der entscheidende Ort für diese Erfahrung ist nicht der Dialog auf hoher Ebene, sondern die Schule, in der wir viele entscheidende Jahre unseres Lebens verbringen. Allerdings muss man den Muslimen die individuelle Freiheit zur eigenen Ausgestaltung dieser Ideen lassen.

Wenn ich auf diese Weise eine würdige Perspektive für mein Leben finde, finde ich mich automatisch in einem natürlichen Loyalitäts- und Identifikationsverhältnis zu Deutschland wieder – und das ist ein Gefühl, das ich nicht missen möchte.   In diesem Punkt sind die Muslime jedoch stark auf das Entgegenkommen der Mehrheitsgesellschaft angewiesen. Erfahrungsgemäß hat es verheerende Folgen, die kulturelle Herkunft der Jugendlichen zu ignorieren oder sie deswegen in Verlegenheit zu bringen – aber dies passiert leider allzu oft. Je intensiver solche Ausgrenzungserlebnisse wahrgenommen werden, umso stärker binden sich die Jugendlichen an die vage Vorstellung, die sie von ihrer ursprünglichen kulturellen oder religiösen Identität besitzen, und dies meist völlig unreflektiert. Einen behütenden und Identität stiftenden Rahmen finden sie oft nur in sozialen oder ideologischen Gruppen der eigenen Herkunft, auch wenn sie hier ähnliche  Integrationsschwierigkeiten haben wie in der deutschen Gesellschaft. Was suchen sie dann dort überhaupt?

Es ist das Selbstwertgefühl, das viele muslimische Jugendliche in der deutschen Gesellschaft verlieren und im Rückzug in ihre vermutete kulturelle Identität auf dramatische Weise wiederentdecken. So wird aus der Not eine Tugend und die Ausgrenzungserfahrung zum Erweckungserlebnis. Neben vielen anderen Ursachen für diese Absonderungsmechanismen erscheint mir vor allem diese als entscheidend: Es gibt in Deutschland einen erheblichen Mangel an Identifikations- und Rollenangeboten für muslimische Jugendliche. Wo sind z. B. die sympathischen, starken Rollen, die die Gesellschaft für uns reserviert hat? Wo sind die muslimischen Xavier Naidoos, fern von resginierendem Gangsta-Gehabe [den positiven Hinweis auf Naidoo nehme ich nachträglich ausdrücklich zurück – HT August 2021]? Und vor allem: Wo sind die Lehrer, die uns von der türkischen Geschichte oder von der Zivilisation stiftenden Rolle des Islam berichten?

Viele muslimische Jugendliche glauben, dass die historischen Glanzleistungen der Muslime in Kunst und Wissenschaft „seitens der Deutschen verheimlicht werden“, wo doch in Wirklichkeit jene deutschen Lehrer selber praktisch nichts darüber wissen. Seit fast zwanzig Jahren bestreite ich meine Bildungslaufbahn in Deutschland, aber von Türken oder Muslimen wussten meine Lehrkräfte weder an der Schule noch an der Uni viel mehr als Rudimentäres oder Unerfreuliches zu berichten. Wenn dort vom Islam die Rede war, dann war es in der Regel nicht der Rede wert. Einen überengagierten Philosophieprofessor musste ich etwas verunsichert darauf aufmerksam machen, dass entgegen seinen Aussagen die Bibliothek von Alexandrien nicht vom Kalifen Umar den Flammen übergeben wurde, sondern schon Jahrhunderte vor dem Islam zugrunde gegangen war. Er zeigte die gar nicht selbstverständliche Größe, meinen Einwand anzunehmen, weshalb ich ihm nicht sauer sein und insbesondere nicht unterstellen konnte, dass „der Deutsche mal wieder alles verheimlicht“.

Es wäre für jeden ein Gewinn, wenn es Teil der Allgemeinbildung wäre, dass Muslime seinerzeit großartige Lehrer waren, auch und insbesondere für das Abendland – und bei dieser Gelegenheit könnte man betonen, dass die Muslime davor erst einmal glänzende Schüler gewesen sind. Dass sie z. B. bei den syrischen Christen die Schulbank gedrückt haben, dass sie u. a. dort die alten Griechen kennengelernt haben und vieles davon auf Anweisung des Kalifen im Haus der Weisheit in Bagdad (ja genau, dort!) übersetzen ließen und in ihren Bildungskanon aufgenommen haben. Dass der einflussreiche sunnitische Theologe Ghazali im 11. Jahrhundert die Philosophen kritisiert hat, aber dennoch so mutig war, das System der aristotelischen Logik der islamischen Theologie einzuverleiben. Dass selbiger Ghazali die Meinung vertrat, dass bei Widersprüchen zwischen dem Wortlaut von Offenbarungstexten und naturwissenschaftlichen Fakten die Offenbarung uminterpretiert werden müsse. Dass überhaupt in der islamischen Kalam-Theologie drei Quellen des Wissens anerkannt wurden, nämlich der Verstand, die Sinne und die Offenbarung. Ich finde diese Dinge einfach wunderbar und hochgradig inspirierend – vor allem, weil sie trotz ihrer zeitlichen Ferne in eine Richtung weisen, die man vorsichtig als Aufklärung innerhalb des Islams bezeichnen könnte. Große Schüler waren sie, und sie könnten es auch heute sein, auch und gerade hier in Deutschland. So etwas würden muslimische Jugendliche gerne von ihren Lehrern und Professoren hören, und nicht dass der fromme Kalif Umar in einem Anflug von religiösem Größenwahnsinn die Bibliothek von Alexandrien abgefackelt hat…